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Russlands Opposition auf verlorenem Posten

Jennifer Pahlke
20. April 2023

Der prominente Kremlkritiker Wladimir Kara-Mursa ist zu 25 Jahren Haft verurteilt worden. Er ist nur einer aus einer Reihe an russischen Oppositionellen, gegen die Moskau immer härter vorgeht.

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Der russische Kremlgegner Wladimir Kara-Mursa im Gerichtssaal während der Urteilverkündung am 17. April 2023: 25 Jahre Lagerhaft.
Ein politisches Urteil: 25 Jahren Lagerhaft für Kremlgegner Wladimir Kara-Mursa Bild: Moscow City Court press service/AFP

"Es existiert keine organisierte Opposition in Russland mehr, da der Kreml systematisch gegen sie vorgeht", erklärt der russische Politikwissenschaftler Konstantin Kalatschow im Gespräch mit der Deutschen Welle.

Erst kürzlich wurde die höchste Haftstrafe gegen einen Oppositionspolitiker verhängt. Wladimir Kara-Mursa wurde zu 25 Jahren Haft in einem Straflager verurteilt. Das Gericht verurteilte ihn wegen  Hochverrats, "Diskreditierung der russischen Armee" und der illegalen Zusammenarbeit mit einer in Russland "unerwünschten" Organisation. Nach russischen Medienberichten soll er gegen Bezahlung Organisationen aus NATO-Ländern dabei geholfen haben, Russlands nationale Sicherheit zu untergraben. In seiner letzten Rede vor Gericht verglich Kara-Mursa sein Verfahren mit Stalins Schauprozessen. Er bat nicht um einen Freispruch, da er zu allem stehe, was er gesagt habe.

Nicht alle politischen Strafurteile in Russland würden von Gerichten ausgesprochen - einige würden auch auf politischer Ebene gefällt, vermutet Lev Schlossberg von der liberalen Oppositionspartei Jabloko (russisch für Apfel). "In manchen Fällen können es hochrangige Beamte aus Putins Regierung sein. Es kann auch Putin selbst sein. Bei Kara-Mursa habe ich die Vermutung, dass die Strafe mit Putin abgesprochen ist", meint Schlossberg im Gespräch mit der DW.

Luftaufnahme von zerstörten Wohnhäusern in der ukrainischen Stadt Butscha.
Zerstörte Stadt Butscha in der Ukraine: Weil er russische Kriegsverbrechen öffentlich angeprangert hatte, wurde Ilja Jaschin zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt.Bild: Fanny Facsar/DW

Auch der Oppositionelle Ilja Jaschin, der mit seiner Berufung gegen seine Haftstrafe scheiterte, wurde wegen "Diskreditierung der russischen Armee", verurteilt: er hatte mutmaßliche russische Kriegsverbrechen in Butscha öffentlich angeprangert. Für achteinhalb Jahre muss er dafür ins Gefängnis. Seine politische Karriere begann in einer Zeit, als man noch von einer politischen Opposition in Russland sprechen konnte. Mehr als 20 Jahre kämpfte er gegen Wladimir Putin und die russische Autokratie.

Proteste sind kaum noch möglich

Der international wohl bekannteste russische Oppositionspolitiker ist Aleksej Nawalny. Bei seinen zahlreichen öffentlichen Auftritten provozierte er die politische Elite bewusst und hatte keine Angst, seine Meinung zu sagen. Im Januar 2021 wurde er nach seiner Rückkehr nach Russland verhaftet und verbüßt eine Haftstrafe von mindestens neun Jahren.

Für Konstantin Kalatschow kam er nie als nächster Präsident Russlands in Frage: "Vor seiner Inhaftierung hatte Aleksej Nawalny nicht mehr als anderthalb Prozent aller Stimmen. Für einen ernsthaften Kampf um die Macht reicht das auf jeden Fall nicht aus."

Russland Proteste gegen die Teilmobilmachung, Festnahme Dmitry Trubatchov
Proteste - wie hier im September 2022 gegen die Teilmobilmachung in Russland - werden vom Kreml nicht mehr geduldetBild: Alexander Nemenov

Nach Angaben von Amnesty International wird es immer schwieriger, in Russland zu protestieren. Es ist für den Einzelnen mit hohen Risiken verbunden und die Proteste werden brutal niedergeschlagen. Nach Informationen der russischen Nichtregierungsorganisation OWD-Info wurden allein im Jahr 2022 mehr als 15.000 Menschen bei Anti-Kriegs-Protesten festgenommen.

Eine Opposition im Exil wird nicht mehr wahrgenommen

Weitere Namen in der russischen Opposition sind Schach-Großmeister Garri Kasparow oder der ehemalige Oligarch Michail Chodorkowski. Beide leben seit Jahren im Ausland. Zusammen mit anderen Exilrussen treffen sie sich jährlich zum "Freien Russischen Forum" in der litauischen Hauptstadt Vilnius, um über politische Themen zu sprechen.

"Das Problem mit der Opposition im Exil ist, dass sie sofort den Bezug zum Land verliert", verdeutlicht Kalatschow. "Als Opposition ins Exil zu gehen ist heute ein kleines Todesurteil. Somit ist der Einfluss des 'Freien Russischen Forums' in Russland gleich Null."

Die russische Systemopposition

Nach offizieller Lesart des Kremls gibt es in Russland nur eine Opposition: die Systemopposition. Darunter versteht man Parteien, die zwar als Opposition auftreten, aber in Wirklichkeit nach den Regeln der Machthaber handeln.

Fünf Parteien sind aktuell im russischen Parlament, der Staatsduma, vertreten: Einiges Russland, die Kommunistische Partei Russlands (KPRF), Gerechtes Russland, die Liberal-Demokratische-Partei-Russland (LDPR) und Neue Leute.

Der Oppositionspolitiker Lev Schlossberg erklärt: "Die Opposition ist eigentlich eine politische Kraft, eine politische Partei. Aber keine der in der Duma vertretenen Parteien darf man als Opposition bezeichnen. Eine Opposition sollte immer ein Gegenpol zur Regierung sein. Und das ist keine Partei in der Duma - sie sind alle Putins Parteien."

Blick in den Plenarsaal des russischen Parlaments, der Duma.
Russische Staatsduma: auch von den offiziellen Oppositionsparteien kommen keine kritischen TöneBild: Sergei Fadeichev/TASS/dpa/picture alliance

Unter Putin sei die Opposition in Russland zerstört worden. "Die Wahlen sind zweitrangig geworden. Sie sind kein Kriterium für Erfolg. Jedes Wunschergebnis kann fabriziert werden. Wichtig ist nur, dass es eine sterile Duma aus 450 Abgeordneten gibt, die ausnahmslos hinter Putin steht", führt Schlossberg weiter aus.

Warum es kein Oppositionsbündnis gibt

2006 schlossen sich mehrere Oppositionsparteien zu dem Bündnis Anderes Russland zusammen, an dem auch der Regierungskritiker und frühere Schachweltmeister Garri Kasparow und die Menschenrechtsorganisation Memorial beteiligt waren. Ziel war es, als vereinte Opposition zu den russischen Parlamentswahlen 2007 und den Präsidentschaftswahlen 2008 anzutreten, doch die Ziele wurden nicht verwirklicht und das Bündnis 2010 aufgelöst.

Ein weiteres Bündnis war die Demokratische Koalition vor den Duma-Wahlen 2016. Es bestand aus mehreren Oppositionsparteien, zerbrach aber aufgrund interner Streitereien und Machtkämpfe. Für Lev Schlossberg stellt sich die Frage: "Mit wem soll man denn in Russland eine Oppositionskoalition bilden? Nennen Sie mir einen Namen einer echten oppositionellen Partei. Es gibt einfach keine solche Partei!"

Die Zukunft der russischen Opposition

Politikwissenschaftler Konstantin Kalatschow zufolge fragen sich viele Russen derzeit mehr oder weniger offen, wer wohl nach Putin kommt. Es sei aber besser, nicht einmal hinter verschlossenen Türen darüber zu sprechen. "In Russland existiert zwar eine oppositionelle Stimmung, aber ihr folgen keine Taten. Niemand kristallisiert sich als Anführer einer echten Opposition heraus. Niemand will seine kleine Freiheit verlieren. Deswegen gibt es in Russland keine Opposition mehr. Es kann sie erst wieder geben, wenn Putin weg ist."

Jennifer Pahlke, Autorin
Jennifer Pahlke Korrespondentin