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Ruttig: "Abzug kommt zu früh und zu spät"

Sven Pöhle6. August 2013

Der Bundeswehrverband fordert den Verbleib deutscher Kampftruppen in Afghanistan auch über 2014 hinaus. Afghanistan-Experte Thomas Ruttig kritisiert im DW-Interview, dass zu viel über das Militär debattiert wird.

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Bundeswehrsoldaten steigen am 22.12.2012 im Camp Marmal in Masar-i-Scharif in eine C160 Transall-Transportmaschine, um nach Deutschland zurück zu fliegen. (Foto: Maurizio Gambarini/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Nach Ende des ISAF-Mandats im Jahr 2014 zieht sich die Bundeswehr weitgehend aus Afghanistan zurück. 600 bis 800 Bundeswehrsoldaten soll es dann maximal noch im Land geben, die ausschließlich als Ausbilder der afghanischen Sicherheitskräfte vorgesehen sind. Der Bundeswehrverband fordert nun aber, auch nach 2014 deutsche Kampftruppen in Afghanistan zu stationieren.

Deutsche Welle: Hat der Bundeswehrverband recht - ist die Sicherheitslage so schlecht, dass Truppen über 2014 hinaus nötig wären?

Thomas Ruttig: Die Lage ist noch sehr kritisch, und der Bundeswehrverband liegt mit seiner Einschätzung der Sicherheitslage richtig. Das Gewaltniveau bewegt sich in etwa auf dem Level von 2011. Das war bisher das Jahr mit den meisten Gewaltvorfällen. Die afghanische Bevölkerung kann sich im Land nur eingeschränkt bewegen. Wer mit der Regierung zusammenarbeitet, hat mit Repressalien der Taliban zu rechnen - viele wurden bisher umgebracht.

Thomas Ruttig, Ko-Direktor des Afghanistan Analysts Network (Foto: AAN)
Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts NetworkBild: picture-alliance/dpa

Auf der anderen Seite hat die Anwesenheit der Kampftruppen nicht dazu geführt, die Taliban zu schwächen - im Gegenteil. Es geht also nicht nur um die einfache Entscheidung, Truppen abzuziehen oder im Land zu behalten. Man muss auch überlegen, was die Truppen bislang erreicht haben und was eventuell verbleibende Truppen anders machen sollten.

Militärische und sicherheitspolitische Fragen bestimmen die Afghanistan-Debatte in Deutschland. Woran liegt das?

Die militärischen Aspekte des Afghanistan-Einsatzes stehen in unserer Bevölkerung und in vielen anderen Ländern im Mittelpunkt. Eines muss man aber ganz klar sagen: Afghanistan ist eine politische Mission. Es geht um etwa 30 Millionen Afghanen, denen Wiederaufbau, Demokratisierung und die Durchsetzung von Menschenrechtstandards versprochen wurde. Die Umsetzung ist aber hinter den Erwartungen geblieben. Auch Vertreter der afghanischen Zivilgesellschaft sagen, dass schon wieder Rückschritte eintreten.

Der starke Fokus auf das Militär liegt an einer großen Fehleinschätzung am Anfang des Einsatzes. Das Taliban-Regime war gestürzt, dieses Problem hielt mal also für gelöst. Aber der Westen hat sie wieder stark gemacht.- auch, indem man eine korrupte Regierung in Kabul viel zu lange unkritisch unterstützt hat. Dadurch sind die Regierungen der Länder, die Truppen nach Afghanistan entsandt haben, in einen Widerspruch zu ihren eigenen Ansprüchen geraten. Das bleibt den Afghanen natürlich nicht verborgen.

Die deutsche Politik lehnt Kampftruppen über 2014 hinaus in Afghanistan ab. Verkennt man die instabile Lage am Hindukusch oder spricht man diese mit Rücksicht auf die bevorstehende Bundestagswahl bewusst nicht an?

In der deutschen Bevölkerung und bei vielen Politikern gibt es bedauerlicherweise eine Müdigkeit zum Thema Afghanistan. Aber für den Aufbau des Landes braucht man einen langen Atem und den muss unsere Politik auch aufbringen. Man muss dann immer noch überlegen, ob dafür noch Truppen notwendig sind. Eine ehrliche Bilanz zu ziehen, wäre dafür die Grundvoraussetzung. Die ist bisher ausgeblieben. Und dafür dürfte gerade in Wahlkampfzeiten die Bereitschaft nicht so groß sein.

Aber die Entscheidung der westlichen Länder zum Abzug Ende 2014 steht. Kommt der Abzug zu früh?

Der militärische Abzug kommt im Grunde gleichzeitig zu früh und zu spät. Zu früh, weil grundsätzliche Aufgaben beim institutionellen Aufbau nicht erfüllt wurden. Zu spät, weil die westlichen Truppen den Zeitraum, in dem sie den meisten Afghanen willkommen waren, überschritten haben. Beides hängt natürlich miteinander zusammen. Afghanistan ist nach wie vor ein sehr armes Land, trotz der Dutzenden von Milliarden Dollar, die dorthin geflossen sind.

Die Fortschritte sind in vielen Landesteilen nicht sichtbar. Es ist also weiter notwendig, den Aufbau eines Landes voranzutreiben, das bereits mehr als 30 Jahre Krieg durchmacht und noch lange nicht auf eigenen Beinen steht. Da wird noch sehr viel Hilfe notwendig sein.

Ist nach dem Abzug der westlichen Kampftruppen mit einer Rückkehr von Extremisten an die Macht zu rechnen?

Es ist ein mögliches Szenario. Die afghanischen Streitkräfte sind nicht schwach, aber sie sind gespalten und könnten auseinanderbrechen. Wenn dies tatsächlich passiert und wenn die Präsidentschaftswahlen im nächsten April wieder von Fälschungen geprägt sind, könnte es zu einem institutionellen Kollaps kommen.

Auf der anderen Seite ist es aber ebenso möglich, dass die Streitkräfte den Taliban standhalten. Die Taliban sind alles andere als beliebt, und es könnte auch zu einer Mobilisierung in der Bevölkerung gegen sie kommen. Aber in beiden Szenarien würde der Krieg weiter gehen. Deswegen wäre es notwendig, auf eine politische Regelung zu setzen, die die Taliban mit einbezieht. Diese müssten aber gleichzeitig einsehen, dass sie keine Mehrheit in Afghanistan darstellen und sich in einen politischen Prozess einordnen. Dafür stehen die Zeichen aber nach wie vor schlecht.

Thomas Ruttig ist Co-Direktor der unabhängigen Recherche-Organisation Afghanistan Analysts Network in Kabul und Berlin.

Das Gespräch führte Sven Pöhle.