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"Karsai will sein politisches Erbe sichern"

Esther Felden10. Januar 2014

Mit der geplanten Freilassung Dutzender Bagram-Häftlinge provoziert Hamid Karsai die USA und wehrt sich zugleich gegen Druck aus dem eigenen Land, erklärt Afghanistan-Experte Thomas Ruttig.

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Thomas Ruttig Deutscher Afghanistan-Experte
Bild: picture-alliance/dpa

Deutsche Welle: Der Streit zwischen den USA und Afghanistan um die geplante Freilassung von Dutzenden Häftlingen, die im Gefangenenlager Bagram einsitzen, geht weiter. Allen amerikanischen Warnungen zum Trotz hat der afghanische Präsident Karsai jetzt angeordnet, 72 der betroffenen 88 Männer. Wie beurteilen Sie diese Entscheidung?

Thomas Ruttig: Das ist eine weitere Runde in der – auch sehr persönlichen - Auseinandersetzung zwischen dem afghanischen Präsidenten Karsai und der amerikanischen Regierung über Souveränitätsrechte in Afghanistan. Dabei geht es auch um die Gefangenen, die im Gefängnis in Bagram verblieben sind. Die Einrichtung stand bis März 2012 unter amerikanischer Hoheit und wurde dann an die Afghanen übergeben. Im März 2013 wurde die Übergabe auf eine neue rechtliche Grundlage gestellt, die unter anderem vorsah, dass die Amerikaner zumindest in abgeschwächter Form ein Mitspracherecht haben, wenn von ihnen als besonders gefährlich eingestufte Gefangene freigelassen werden sollen.

Unter diese Kategorie fallen die 88 Häftlinge, um die es jetzt geht. Die afghanische Seite hat ein "Review Board" eingesetzt, eine Gruppe von Gutachtern unter Vorsitz eines Staatsanwaltes. Sie haben die Akten durchgesehen und bekannt gegeben, sie hätten in 72 der 88 Fälle keine überzeugenden Beweise im Zusammenhang mit den vorgeworfenen Straftaten gefunden. Die Vorwürfe lauten unter anderem auf Tötung von afghanischen und US-Militärangehörigen. Daher jetzt die Freilassung.

Die Amerikaner ihrerseits argumentieren, dass die Karsai- Regierung den Freigelassenen keine hinreichenden Auflagen erteilen könnte und diese - wie früher schon andere - wieder in den Kampf zurückkehren könnten.

Allerdings würden ein paar Dutzend Kämpfer mehr keinen Unterschied machen. Die Taliban haben trotz oder vielleicht sogar wegen aller Verluste, die sie in den vergangenen Jahren einstecken mussten, bisher keine Rekrutierungsprobleme. Anders würde das bei einer Freilassung der fünf in Guantanamo einsitzenden Taliban aussehen, denn die sind tatsächlich hochrangig und einflussreich. Aber nach Karsais Alleingang in Bagram dürften die Chancen gering sein, dass Obama ihm diesen Gefallen tut. Darüber hinaus ist auch das persönliche Verhältnis zwischen Karsai und Obama schlecht.

Die Meinungen darüber, ob von den betreffenden Gefangenen in Bagram tatsächlich eine Gefahr ausgeht, gehen auseinander. Wie ist Ihre Einschätzung?

Von außen kann man das gar nicht beurteilen, denn wir kennen die Akten nicht. Wir kennen noch nicht einmal die Namen der meisten Betroffenen. Eine amerikanische Zeitung hat jetzt ein paar Namen veröffentlicht. Daraus geht hervor, dass es sich nicht um sehr hochrangige Aufständische handelt, vielleicht um Führer von Angriffskommandos oder Anführer kleinerer Taliban-Gruppierungen.

Uns liegen Informationen aus Quellen vor, die besagen, dass es in dem hochrangigen Panel, das letztendlich die Entscheidung getroffen hat – dazu gehören auch Präsident Karsai, der nationale Sicherheitsberater und ehemalige Außenminister Rangin Dadfar Spanta sowie der Vorsitzende des "Review Panels" und der Chef des afghanischen Geheimdienstes –durchaus sehr unterschiedliche Meinungen gegeben hat. Am Ende hat sich dann aber wohl Präsident Karsai mit seiner Meinung durchgesetzt.

Wichtig sind vor allem zwei Dinge: Zum Einen ist Karsai natürlich politisch unter Druck. Im April dieses Jahres finden Präsidentschaftswahlen statt, er kann nicht mehr kandidieren, will aber sein politisches Erbe sichern.

Zum zweiten will Karsai auch Gespräche mit den Taliban beginnen. Die Taliban verweigern sich direkten Gesprächen mit ihm und der Regierung in Kabul. Er hofft, durch die Gefangenen in Bagram und indirekt auch über Gefangene, die noch in Guantanamo sitzen, Kontrolle über hochrangige Taliban in US-Haft zu bekommen, um sie als Faustpfand einzusetzen und die Taliban damit zu zwingen, Gesprächen zuzustimmen.

Soweit die Motive Karsais. Was sind auf der anderen Seite die Risiken seines Vorgehens? Welche Konsequenzen könnte die Freilassung für Afghanistan haben?

Das belastet die Beziehungen zu den USA natürlich sehr. Afghanistan ist abhängig von ausländischer Hilfe, und das meiste Geld kommt aus den USA. Das betrifft beispielsweise die Bezahlung und Ausrüstung der afghanischen Sicherheitskräfte, die ab Ende 2014 allein die Verantwortung über die Sicherheit in ihrem Land tragen sollen. Und auch 80 bis 90 Prozent aller Ausgaben, die der afghanische Staat hat, stammen aus auswärtigen Quellen.

Die Amerikaner verhandeln mit Afghanistan gegenwärtig auch über ein bilaterales Sicherheitsabkommen, das sicherstellen soll, dass nach 2014 noch Ausbilder und Spezialkräfte der Amerikaner zur Ausbildung der afghanischen Streitkräfte und zur Bekämpfung von Aufständischen im Land bleiben sollen. Ohne dieses Abkommen wird es keine Verlängerung der US-Mission geben. Der Kongress droht bereits damit, dass – wenn keine Soldaten in Afghanistan bleiben dürfen – auch sonstige Hilfe eingestellt werden könnte.

Und ohne US-Soldaten und ohne ein solches Abkommen wird es auch keine Verlängerung der NATO-Mission in Afghanistan geben. Die derzeitige NATO-Mission endet im Dezember 2014, soll aber durch eine neue Operation zur Ausbildung der afghanischen Streitkräfte ersetzt werden. Das stünde dann alles in den Sternen.

Um dieses geplante Sicherheitsabkommen gibt es seit Monaten Streit: Karsai verweigert seine Unterschrift, will das Thema seinem Nachfolger hinterlassen. Inwieweit besteht ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Konflikten um das Abkommen und die Bagram-Gefangenen?

Da besteht ein sehr direkter Zusammenhang, weil auch aus Afghanistan selbst der Druck auf Karsai, das Abkommen zu unterzeichnen, gestiegen ist. Viele Parlamentarier und Senatoren sind dafür. Karsai hat im vergangenen Jahr auch eine Loja Dschirga – eine große Stammesversammlung - einberufen, die ihm geraten hat, dieses Abkommen zu unterzeichnen. Er hat es trotzdem nicht getan. Ich denke, das ist eher taktisches Kalkül, denn dann würde er ein Druckmittel auf die Amerikaner aus der Hand geben.

Er will die Amerikaner unter anderem dazu zwingen, ihm Gesprächskanäle mit den Taliban zu eröffnen. Die Amerikaner haben ja bereits Gespräche mit den Taliban geführt, wenn auch nicht sehr erfolgreiche. Im Grunde hängt das alles zusammen, es sind gewissermaßen die letzten Aktionen Karsais, der noch einmal stark auftreten will, bevor er aus dem Amt scheidet.

Thomas Ruttig ist Ko-Direktor des Afghanistan Analysts Network (AAN).