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Politik

Rückblick auf ein Jahr des Protests in Hongkong

Dang Yuan | Hans Spross
15. März 2020

Nach einem Jahr massiver Proteste scheint die Corona-Krise die Hongkonger Demokratie-Bewegung in den Hintergrund gedrängt zu haben. Aber sobald die Epidemie eingedämmt ist, wird der Konflikt wieder aufbrechen.

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Skyline auf der Hongkong Island, Hongkong China
Bild: DW

Am Nachmittag des 15. März 2019 kommt der DW-Journalist mit zwei Barkeepern auf der 30. Etage in einer Hotelbar im Hongkonger Stadtteil Kowloon ins Gespräch. Der eine ist aus Frankreich, der andere von den Philippinen, beide arbeiten seit einigen Jahren in Hongkong. "Es ist alles chinesisch geworden", sagt der junge Franzose mit Blick auf die Skyline von Hongkong Island auf der anderen Seite des Victoria-Hafens. Er habe gehört, dass früher die Neon-Werbeflächen von japanischen und amerikanischen Firmen genutzt wurden. Jetzt prangten dort überwiegend die Namen von Großkonzernen aus China: China Life, Maotai, Evergrande. Auch die meisten Gäste in der Bar seien Festlandchinesen, ergänzt der Philippiner, er erkenne sie an der Aussprache.

Hongkong Demonstration gegen das Zulassen von Auslieferungen nach China
(Archiv) Demonstranten fordern Rücktritt der Verwaltungschefin Carrie LamBild: picture-alliance/Zumapress/J. Russel

Widerstand gegen das Auslieferungsgesetz

Weit unten auf dem Straßenniveau hat unterdessen eine kleine Gruppe von Demokratieaktivistinnen die Lobby der Hongkonger Stadtverwaltung im Distrikt Central besetzt. "Carrie Lam hat Hongkong verraten!", "Stoppt das Auslieferungsgesetz", skandieren sie.

Es geht vorderhand um eine umstrittene Änderung des Auslieferungsgesetzes von Hongkong. Aber wie schon 2014 bei den Regenschirmprotesten und der Bewegung "Occupy Central" geht es im Kern darum, wie stark die Pekinger Führung in die Angelegenheiten von Hongkong eingreifen darf und soll. Und um die Frage: Wer soll Hongkongs Zukunft gestalten, die Wähler in Hongkong oder das autoritäre Regime in Peking? Im Jahr 2047 läuft das für 50 Jahre geltende Übergangsprinzip "Ein Land, zwei Systeme" aus. "Was dann?", fragen sich vor allem die jüngeren Bewohner. 

Im Februar 2019 hatte die Hongkonger Regierungschefin ("Chief Executive") Carrie Lam den Entwurf für ein geändertes Auslieferungsgesetz ins Parlament eingebracht. Es hätte erstmals ermöglicht, dass Tatverdächtige in Hongkong auch an die Strafverfolgungsbehörden des Festlands überstellt werden können. Für viele Hongkonger absolut inakzeptabel, denn die Erinnerung an "verschwundene" Buchhändler und Geschäftsleute, die teilweise später im chinesischen Staatsfernsehen gestellte "Geständnisse" abgaben, war noch frisch.  

Protest im Parlament und auf der Straße

Am 3. April fand die erste Lesung im Stadtparlament (Legco) statt. Dort machten die pekingkritischen Abgeordneten ihrem Unmut über den "Ausverkauf" an Peking Luft. Elf Mal musste der Regierungsvertreter die Vorstellung des Gesetzesvorhabens nach massiven Zwischenrufen und Einsprüchen unterbrechen.

Auch auf der Straße äußern die Bürger ihren Protest gegen das Gesetzesvorhaben. Am 9. Juni, einem Sonntag, demonstriert nach Angaben der Aktivisten mehr als eine Million Menschen auf der Straße. Der Grund: Am 12. Juni sollte im Legco die zweite Lesung stattfinden. Sieben Stunden lang marschiert der kilometerlange Zug friedlich durch das Regierungsviertel.

Doch die Demonstration endet mit Gewalt zwischen Randalierern und Polizisten. Die Szenen wiederholen sich am 12. Juni, als Demonstranten die Zufahrt zum Parlamentsgebäude blockieren, um so die zweite Lesung des Auslieferungsgesetzes zu verhindern. Am späten Abend versammeln sich rund 2000 überwiegend junge Demonstranten zu einer nächtlichen Mahnwache vor dem Parlament. Die zweite Lesung wird verschoben.

China Hongkong PK Carrie Lam
Carrie Lam, Verwaltungschefin Hongkongs, wurde von einer chinafreundlichen Komission gewähltBild: Reuters/A.A. Dalsh

Carrie Lam gibt nach - etwas

Der öffentliche Druck auf Carrie Lam wächst, so dass sie am 15. Juni einen Rückzieher machen muss. "Die Regierung hat entschieden, das Gesetzesvorhaben auszusetzen", erklärt sie. Aber damit ist es noch nicht endgültig vom Tisch. Wieder kommt es zu einer Massendemonstration, zwei Millionen laut Organisatoren, 330.000 laut Polizei. Am 1. Juli, dem Jahrestag der Rückgabe Hongkongs an China, geht mehr als eine halbe Million Menschen auf die Straßen. Tausende Protestler versammeln sich, um gegen die jährliche Fahnenzeremonie zu demonstrieren. Andere versuchen, das Parlament zu stürmen. Sie werfen Fensterscheiben des Regierungsgebäudes ein und versuchen, sich gewaltsam Zugang zu verschaffen.

Hongkong | Proteste gegen Auslieferungsgesetz
Massenproteste in Hongkong am 16.06.2019 Bild: Reuters/T. Siu

Eskalierende Konfrontation

In der zweiten Jahreshälfte werden die Demonstrationen dezentraler, häufiger und "kreativer". Der Flugbetrieb am internationalen Flughafen, dem wichtigsten Drehkreuz in Asien, muss mehrmals eingestellt werden.

Die Polizei geht jetzt härter gegen die Demonstranten vor, Tränengas und Gummigeschosse kommen zum Einsatz, auch Wasserwerfer. Um die Randalierer zu identifizieren, erlässt die Regierung in Hongkong ein Vermummungsverbot. Zeitweise wird spekuliert, ob die Zentralregierung die in Hongkong stationierten Soldaten der chinesischen Volksbefreiungsarmee einsetzen wird, um die Ordnung wiederherzustellen. Dies geschieht jedoch nicht.

Die Protestbewegung fordert die Aufklärung der Polizeieinsätze, bei denen aus ihrer Sicht unverhältnismäßige Gewalt eingesetzt wurde. Weitere Forderung: Carrie Lam, die als regierungsunfähig bezeichnet wird, soll zurücktreten. Und wie schon 2015 werden allgemeine und freie Wahlen gefordert.

China HongKong -  Anti-Regierungsproteste - Ausschreitungen
(Archiv) Polytechnische Universität am 18. November 2019 in HongkongBild: Reuters/A. Abidi

Besetzung und Belagerung

Eine zentrale Führung der Protestbewegungen scheint es nicht zu geben. Die Aktivisten stimmen über soziale Netzwerke ihre Aktionen ab. Am 17. November beginnt eine 12-tägige Besetzung des Geländes der Polytechnischen Universität Hongkongs. Die Polizei vermutet viele gewaltbereite Randalierer, die sich auf dem Campus verschanzt haben, und belagert den Campus, um die Moral der Besatzer zu zermürben.

Randalierer bewerfen die Polizei mit Benzinbomben und stecken Gebäudeteile in Brand. Die Polizei fährt mit gepanzerten Fahrzeugen vor und schießt mit Tränengas. Nachdem die Besatzer aufgegeben haben, stellt die Polizei mehr als 3800 Benzinbomben sowie 500 Flaschen giftige Chemikalien sicher. 1377 Personen werden festgenommen, die wenigsten von ihnen Studenten der Polytechnischen Universität. Von 318 Minderjährige wurden die Personalien erfasst, die dann nach Hause gehen dürfen.

Die bürgerkriegsähnliche Eskalation des Konflikts zwischen Demokratieaktivisten und Sicherheitskräften führte nicht, wie vielleicht zu erwarten gewesen wäre, zu einer Stärkung des prochinesischen Lagers als Garant von Recht und Ordnung. Vielmehr erzielten die Kandidaten der Opposition einen klaren Sieg bei den Lokalwahlen am 24. November, wo sie die Mehrheit in 17 von 18 Distrikträten gewannen.

Hongkong Liaison Office | Luo Huining
Luo Huining, ranghöchster Vertreter Pekings in HongkongBild: AFP/Str

Neuer Vertreter Pekings in Hongkong

Die Abstrafung der regierungstreuen Kandidaten dürfte bei der Neubesetzung der Leitung des Pekinger Verbindungsbüros in Hongkong eine Rolle gespielt haben. Xi Jinping hielt zwar an der angeschlagenen Regierungschefin Carrie Lam fest. Er setzte aber zur Überraschung auch von Insidern den 65-jährigen Luo Huining auf den de facto wichtigsten Posten in Hongkong. Luo, der von "außen" nach Hongkong kommt, hat sich beim "Aufräumen" in der von Korruption geplagten Provinz Shanxi 2016 verdient gemacht. Zweifellos erwartet Xi von ihm Fortschritte bei der "Zähmung" der unberechenbaren Verhältnisse in Hongkong. 

Der Ausbruch des neuartigen Coronavirus auf dem Festland und die dadurch hervorgerufene Sorge und Verunsicherung mögen die Protestbewegung in Hongkong vorübergehend geschwächt haben. Jedoch kann sich die Regierung nicht in Sicherheit wiegen: Radikale Oppositionskräfte wussten die Corona-Krise in ihrem Sinne zu nutzen und organisierten Anfang Februar zusammen mit einer neu gegründeten Gewerkschaft einen - möglicherweise illegalen - mehrtägigen Streik von rund 3000 Beschäftigten des Gesundheitssektors. Ihre Forderung: Vollständige Schließung der Grenzen zum Festland, was die Hongkonger Regierung ablehnte. Abwehr des Virus und Abwehr Chinas gingen hier eine kurzfristige Symbiose ein, die für die Zukunft weitere Konfrontationen ahnen lässt.  

Die Ruhe täuscht in Hongkong