Rückschlag für Meinungsfreiheit
16. April 2013
Während der türkische Starpianist durch die Welt tourt und die Menschen mit seinem Klavierspiel begeistert, hat ein Gericht in Istanbul ihm den Prozess gemacht. Der Vorwurf: Er habe sich mit im Internet verbreiteten Kommentaren der Verletzung religiöser Werte schuldig gemacht. Wegen Gotteslästerung wurde Say nun in Abwesenheit zu einer zehnmonatigen Haftstrafe verurteilt – allerdings zur Bewährung. Im vergangenen Jahr hatte er auf Twitter unter anderem über die Beschreibung des Paradieses im Koran, wo Bäche von Wein fließen und auf jeden Gläubigen zwei Jungfrauen warten, die provokante Frage gestellt, ob dieser Ort denn eine Kneipe oder ein Bordell sei. Daraufhin klagten ihn drei türkische Bürger wegen Verletzung ihrer religiösen Gefühle an.
Der 1970 in Ankara geborene Pianist teilt damit im Grunde das Schicksal seines Vaters: Der Musikwissenschaftler und Schriftsteller Ahmet Say saß nach dem Putsch des türkischen Militärs 1970 wegen seiner regimekritischen Äußerungen mehrfach im Gefängnis.
Vollblutmusiker mit politischem Engagement
Kühl-akademisches Musizieren ist nicht seine Sache: Wenn Fazil Say ein Konzert gibt, fliegen die Haare des Pianisten und sein ganzer Körper ist im Einsatz. Die manchmal eigenwilligen, aber stets kraftvollen, durchdachten und gleichzeitig oft auch rhythmisch betonten Interpretationen sind vielleicht nicht unbedingt etwas für Musikpuristen, zeigen aber seine durchaus charakteristische Herangehensweise an die Musik. Für den Ausnahmemusiker Fazil Say spielt Musik die wichtigste Rolle in seinem Leben: Ein Blasinstrument half ihm bereits als Kind, die Folgen einer Operation im Mundbereich zu überwinden.
Nachdem er zum Klavier gewechselt hatte, kam der hochbegabte Teenager mit elf Jahren zum Studium an die Musikhochschule in Ankara und legte drei Jahre später seine ersten Kompositionen vor. Ab 1987 studierte Say Klavier und Komposition an der Düsseldorfer Musikhochschule und an der Hochschule der Künste in Berlin. Während er als Komponist in den letzten Jahren zunehmend internationale Anerkennung erfährt, sorgt der türkische Künstler als Pianist schon seit 1994 für Furore in den Konzertsälen der Welt. Und die Liste der prominenten Dirigenten und Orchester, mit denen Fazil Say zusammen gearbeitet hat, liest sich wie ein "Who is who" der klassischen Musikszene.
Kritischer Kulturschaffender
Zwar gehört Says ganze Leidenschaft der Musik; allerdings interessiert er sich ebenso für die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen in der Türkei. "Er ist ein hoch intellektueller Mensch, der genau wahrnimmt, was um ihn herum passiert", sagt sein Landsmann und Kollege, der in Berlin lebende Komponist Taner Akyol. "Obwohl Fazil rund um die Uhr für seine Musik lebt und ständig unterwegs zu Konzerten oder Festivals ist, liest er sehr viel und kennt viele wichtige türkische Persönlichkeiten."
Sevim Dagdelen, Politikerin und Abgeordnete des Deutschen Bundestages schätzt zudem sein politisches Engagement: "Fazil Say ist ein sehr sensibler, aber auch sehr mutiger Mensch. Er ist nicht jemand, der sich von Drohungen einschüchtern lässt, er ist jemand, der sich sehr stark einsetzt für die Trennung von Staat und Religion, für Grundrechte, Menschenrechte oder Minderheitenrechte".
Vorwurf: "Nestbeschmutzer"
Seine offene und kritische Position gegenüber der Gesellschaftspolitik in der Türkei hat Fazil Say, der seit 2001 in Istanbul lebt und in seiner Heimat als Star gefeiert wird, vor allem in der islamisch-konservativen Regierung unter Ministerpräsident Erdogan einige Gegner eingebracht. Sevim Dagdelen: "Er ist der Regierungspartei AKP und der AKP-Justiz ein Dorn im Auge, weil er kein Blatt vor den Mund nimmt, weil er ein Kritiker ist und die Nichtbeachtung der Trennung von Staat und Religion mehrmals öffentlich kritisiert hat.
Darüber hinaus hat Say gerade in seiner zweiten Sinfonie, der "Mesopotamien-Sinfonie", auf das ungelöste Problem der Kurden in der Türkei aufmerksam gemacht. Auch das nimmt die AKP ihm übel." Gerade aus dem erzkonservativen Lager seiner Heimat kommen seit Jahren schrille diffamierende und verletzende Attacken gegen den Musiker, der wegen seiner kritischen Äußerungen als "Nestbeschmutzer" bezeichnet wird, der "endlich aus der Türkei abhauen" solle – harte Worte über einen Künstler, der sich wie kaum ein anderer seines Landes so intensiv und erfolgreich mit dessen musikalischen Traditionen auseinander setzt.
Suche nach neuer Heimat?
In vielen seiner Kompositionen verwendet Say klassische türkische Melodien, Motive oder Stilelemente sowie traditionelle Instrumente und kombiniert sie mit westlichen Harmonien, Satztechniken oder auch dem Jazz; diesen liebt er übrigens genauso wie die Klassik. Nicht nur musikalisch, sondern auch intellektuell gilt der Künstler international geradezu als Aushängeschild einer modernen und aufgeschlossenen Türkei. Bereits vor einigen Jahren beklagte Say sich in einem Interview über die mangelnde Meinungsfreiheit in seinem Land und die restriktive Politik der konservativen Regierung und spielte mit dem Gedanken, die Türkei zu verlassen.
Die jetzt zur Bewährung ausgesetzte Haftstrafe des Istanbuler Gerichtes wegen angeblicher Blasphemie könnte seinen Entschluss, eventuell nach Japan auszuwandern, möglicherweise beschleunigen.