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Saisonarbeiter: "Deutschland? Nie wieder!"

Lavinia Pitu | Robert Schwartz
28. Juli 2020

In Deutschland haben sich mehrere Fleischbetriebe und Bauernhöfe zu Corona-Brennpunkten entwickelt. Ein Grund dafür: prekäre Arbeits- und Wohnbedingungen. Die Politik hat Änderungen und schärfere Kontrollen angekündigt.

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Osteuropäische Arbeiter bei der Gurkenernte
Osteuropäische Arbeiter bei der GurkenernteBild: picture-alliance/dpa

Wie Arbeiter in Deutschland ausgebeutet werden

"Nach Deutschland komme ich nie wieder. Nicht mal im Urlaub, zu Besuch. Nicht um alles in der Welt!" Mariana Costea hat zwei Monate auf einem Bauernhof in Bayern gearbeitet. Länger hat sie es nicht ausgehalten - unbezahlte Überstunden, schmutzige Sammelunterkünfte, keine Schutzmaßnahmen gegen Corona. "Ich habe nicht akzeptiert, dass wir zu acht in einem Zimmer schliefen, dass acht Menschen ein Bad nutzten und 30 eine Küche", erzählt die Erntehelferin aus Rumänien in der DW-Reportage "Skandal mit System". In einem Kleinbus mit nur acht Sitzen seien bis zu 14 oder 15 Personen morgens aufs Feld und abends wieder zurück in ihre Unterkünfte gebracht worden, berichtet sie. Corona-Schutz in Deutschland sieht anders aus - und hätte so auch für die osteuropäischen Erntehelfer gelten müssen.

Corona - ein Brennglas für längst bekannte Missstände

Mariana Costea ist eine von vielen osteuropäischen Arbeitskräften, die in den letzten Wochen und Monaten den Mut aufgebracht haben, über untragbare Zustände in der deutschen Wirtschaft zu sprechen - in der Fleischindustrie, bei Kurierdiensten, in Pflegediensten, auf Baustellen oder in Bauernhöfen. Zustände, die, wie Bundesarbeitsminister Hubertus Heil offen zugibt, schon seit Jahren bekannt waren: "Corona ist wie ein Brennglas", sagte Heil während einer Pressekonferenz in Berlin, "man sieht Dinge, die schon vorher nicht in Ordnung waren."

Schlachthof
Akkordarbeit im Schlachthof: "Du bist danach am Ende."Bild: picture-alliance/dpa/M. Assanimoghaddam

Über diese "Dinge" spricht auch Alex B. in der DW-Reportage. Er will anonym bleiben, im Bild erscheint er verpixelt, seine Stimme wurde verzerrt. Er hat Angst vor möglichen Repressalien. Zwei Jahre hat er beim größten Fleischproduzenten Deutschlands, Tönnies, gearbeitet: "Sie klauten uns Arbeitsstunden. Statt acht Stunden, zuzüglich 45 Minuten Pause, arbeiteten wir zehn bis 13 Stunden pro Tag. Du bist danach am Ende, auch psychisch."

"Sie" - das sind Subunternehmen, bei denen die meisten osteuropäischen Arbeiter beschäftigt sind. Auch der Rumäne Alex B. hat seinen Vertrag nicht direkt mit dem deutschen Fleischbetrieb, sondern mit einem Subunternehmer abgeschlossen: einer externen Firma, die im Schlachthof Teile der Produktion übernimmt. Die sogenannten Werksarbeiter werden zu den Konditionen des Subunternehmens beschäftigt. Die Verantwortung für die Arbeitsbedingungen trägt also letztlich der Subunternehmer - und nicht der Fleischproduzent.

Für die meisten Werksarbeiter gilt Akkordarbeit: Entlohnt wird nicht nach Zeit, sondern nach Menge der geleisteten Arbeit. Und diese sei in acht Stunden nicht zu schaffen. Ein System der Ausbeutung, sagt Alex B. Wer dagegen protestiert, sei schnell weg, und auch sonst würden deutsche Arbeitsregeln hier nicht gelten, erzählt er.

Müllberge vor Wohncontainern von Erntehelfern
Prekäre Wohnverhältnisse für Erntehelfer - hier in Nordrhein-WestfalenBild: DW/S. Höppner

Und Schutz vor Corona gab es auch kaum - über 1500 der rund 7000 Beschäftigten bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück waren Anfang Juni positiv auf COVID-19 getestet worden, die gesamte Region Gütersloh war im Lockdown. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen Tönnies und gegen eine Reihe von Subunternehmen wegen des Verstoßes gegen das Infektionsschutzgesetz.

Subunternehmen - ein schwer kontrollierbares Netz

Das System der Subunternehmer und Vermittler, die oft Landsleute der osteuropäischen Arbeitskräfte sind, bildet ein undurchsichtiges Netz, das schwer kontrollierbar ist. Müsste es nicht dennoch möglich sein, im Sozialstaat Deutschland regelmäßig zu überprüfen, wie die Arbeitskräfte untergebracht sind  und unter welchen Bedingungen sie arbeiten? Theoretisch schon, sagt Marius Hanganu vom Projekt "Faire Mobilität" im DW-Gespräch. Er ist gebürtiger Rumäne und berät für den Deutschen Gewerkschaftsbund sogenannte Werkverträgler und Saisonarbeiter aus ganz Südosteuropa. Verantwortlich für die Überprüfung der Zustände seien der deutsche Zoll und das Gesundheitsamt, erzählt er. Bei den Kontrollen liefe aber nicht immer alles rund, hätten ihm mehrere Ratsuchende gesagt. Zum Beispiel in Bayern: "Drei Zollbesuche wurden vorher angekündigt. Es ist interessant, wieso bei so einer Behörde wie dem Zoll solche 'Leaks' stattfinden können ... ob es da einen Maulwurf gibt?" Und das hätte nicht mit einer regionalen Zolldirektion zu tun gehabt, sondern mit einer höheren Ebene, auf der diese Informationen gesammelt würden, so Hanganu.

Ein schwerer Vorwurf. Auf Nachfrage bei der Generalzolldirektion, ob solche Fälle angekündigter Kontrollen bekannt seien, bekamen die DW-Reporter eine kurze Antwort: "Hierzu liegen keine Erkenntnisse vor!"

Meldungen über wachsende Corona-Zahlen auf Bauernhöfen und in Fleischbetrieben haben die Politik zum Handeln gezwungen. Ab dem 1. Januar 2021 sollen Werkverträge zumindest in der Fleischindustrie verboten werden. Das heißt, dass dann die großen deutschen Schlachtbetriebe kein Fremdpersonal mehr einsetzen dürfen. Arbeitsminister Heil hat einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt, über den nach der parlamentarischen Sommerpause im Bundestag entschieden werden soll. Warum diese Maßnahme nicht auch in anderen Bereichen umgesetzt wird, in denen ähnliche Missstände herrschen - darauf hat Hubertus Heil noch keine konkrete Antwort: "Wir haben andere Bereiche, da geht's um die Kontrollen des Arbeitsschutzes. Die werden verbindlich erhöht, damit wir in gefährdete Bereiche stärker reingehen können", antwortete der Minister auf eine Frage der DW.

Deutschland Coronavirus Masseninfektion in Niederbayern | Erntehelfer angesteckt
Quarantäne auf einem Bauernhof in Mamming (Bayern)Bild: picture-alliance/dpa/A. Weigel

Corona als Chance?

Ein aktueller Corona-Cluster in Bayern hat die Diskussion um mangelhafte Schutzmaßnahmen und fehlende Kontrollen erneut in den Vordergrund gerückt. Bei einem landwirtschaftlichen Betrieb in Mamming (bei Straubing) wurden über 170 der rund 500 Saisonarbeiter positiv auf COVID-19 getestet, der gesamte Betrieb wurde unter Quarantäne gestellt. Die meisten Erntehelfer kommen aus Rumänien, einige stammen aus Bulgarien, Ungarn und der Ukraine.

Der bewusste Verstoß gegen Hygienekonzepte und Regeln sei einer der Gründe für die Masseninfektion gewesen, erklärte der bayerische Ministerpräsident Markus Söder auf einer Pressekonferenz am Montag. Als eine der Konsequenzen forderte er schärfere Kontrollen "bei Tag und Nacht" - und "unangemeldet" sollten sie sein. Bei Verstößen gegen geltende Hygiene-Regeln soll das Bußgeld von 5000 auf 25.000 Euro erhöht werden. Zudem sollen alle Saisonarbeiter in Bayern auf Corona getestet werden, kündigte Söder an. Ein Lockdown der gesamten Region könne nicht ausgeschlossen werden.

Corona ist ein Brennglas für ein seit Jahren bestehendes System menschenunwürdiger Zustände in Deutschland - aber vielleicht auch eine Chance für Hunderttausende osteuropäische Arbeitskräfte, deren Arbeits- und Wohnbedingungen jetzt besser werden sollen. Ohne Corona, davon ist Alex B. überzeugt, wäre alles beim Alten geblieben. Jetzt versucht er sein Glück bei einem anderen deutschen Fleischbetrieb. In Festanstellung. Sich ausbeuten zu lassen, sagt er, das akzeptiere er nicht mehr.

Porträt einer Frau mit langen braunen Haaren, im Hintergrund sind die Dächer einer Stadt, Kirchtürme usw. zu sehen
Lavinia Pitu Video-Redakteurin, Investigativ-Journalistin, TV-Moderatorin