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Politik

Salafist Abou Nagie: Seelenfänger der Fußgängerzone

Nina Niebergall
14. November 2016

Die Behörden erhöhen den Druck auf Salafisten. Mit der Vereinigung "Die wahre Religion" hat die Polizei erneut einen weiteren prominenten Salafisten Deutschlands ins Visier genommen - den Prediger Ibrahim Abou Nagie.

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Deutschland - Ibrahim Abou-Nagie verteilt Korane in Köln
Bild: picture-alliance/Geisler-Fotopress/R. Harde

"Der Islam wird so dargestellt, als wäre er Gewalt, Hass, Zwangsheirat, Terror" - so beginnt ein Video auf der Internetseite der Vereinigung "Die wahre Religion". Der Initiator des jetzt vom Bundesinnenministerium verbotenen Vereins heißt Ibrahim Abou Nagie (Artikelbild), ein deutscher Muslim palästinensischer Herkunft - und einer der prominentesten Salafisten Deutschlands. Sein erklärtes Ziel: das Bild der Muslime und des Islams verbessern.

"Des wahren Islam", präzisierte der Kölner Prediger bereits vor drei Jahren in einem Interview mit der DW. Sich selbst bezeichnet er einfach nur als Muslim. Salafist sei ein Begriff, der von den Medien und der Politik benutzt werde, um die Muslime zu spalten. "Zionistische Berater" hätten ihn der Regierung eingeflüstert, ergänzt Abou Nagie.

"Nur Moslems"

"Salafist, Islamist - wir sind nur Moslems", erklären auch die sympathischen jungen Männer und immerhin eine Frau in dem Video auf der Seite von "Die wahre Religion", die auch am Morgen nach dem Verbot des Vereins weiterhin erreichbar war. Ihr Appell ist unterlegt mit einer orientalisch-klingenden, beschwörenden Melodie. Insgesamt wirkt der Anfang des Videos wie ein Werbespot, der irgendetwas verkaufen will, indem er ein besonderes Lebensgefühl transportiert. Und in der Tat: Nach wenigen Sekunden folgt ein Schnitt in die Fußgängerzone einer deutschen Großstadt, in der Abou Nagie hinter einem Verkaufstisch voller Korane steht. Nur verkaufen will er die heilige Schrift der Muslime nicht, sondern verschenken - und zwar an Ungläubige. Damit sich jeder eine eigene Meinung über den Islam bilden könne, hieß es 2012, als die Aktion mit dem fordernden Titel "Lies!" startete. Insgesamt 25 Millionen Exemplare wolle man verteilen, erklärten die Initiatoren damals. Oder wie Abou Nagie es ausdrückte: ein Koran für jeden deutschen Haushalt. Zuletzt gab es die Koran-Verteilaktionen nicht nur in Deutschland, sondern in insgesamt 15 Ländern, darunter Frankreich, Großbritannien, Schweden, Österreich, Bahrain und seit Juni 2016 auch Brasilien. 

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Auf Abou Nagies Website "Die wahre Religion" beklagen seine Anhänger einen falsch verstandenen IslamBild: diewahrereligion.de

Der heute 52-Jährige kam mit 18 Jahren aus dem Gazastreifen nach Deutschland, um Elektrotechnik zu studieren. Statt das Studium abzuschließen, eröffnete er ein Geschäft für selbstklebende Folien. Vor neun Jahren musste Abou Nagie Insolvenz anmelden - eine nachträgliche Steuerforderung von 70.000 Euro ruinierte ihn finanziell. Danach widmete er sein Leben ausschließlich der Missionierung von Nicht-Muslimen und einer Szene, in der sich namhafte Salafisten wie der kürzlich festgenommene Abu Walaa oder Sven Lau, der aktuell wegen des Verdachts, die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) unterstützt zu haben, vor Gericht steht. Fortan gibt Abou Nagie in verschiedenen Moscheen Islamunterricht, verteilt auf YouTube Tipps an Konvertiten und tritt immer wieder gemeinsam mit dem salafistischen Prediger Pierre Vogel auf. Dabei predigt der Kölner Geschäftsmann eine äußerst repressive Auslegung des Koran.

Fließende Übergänge

Laut Verfassungsschutz ist Abou Nagie durchaus Salafist - und zwar einer der einflussreichsten in Deutschlands. Der gängigen Definition nach gehört er damit einer sehr konservativen Strömung an, die sich auf den frühen Islam zurückbesinnt, aus der Zeit von Prophet Mohammed. Spätere Rechtsurteile und Auslegungen werden von Vertretern des Salafismus abgelehnt. Schätzte der Verfassungsschutz die Zahl der Salafisten 2011 noch auf bundesweit 3800, ging er 2015 schon von 7500 Anhängern aus, Tendenz steigend. Nur eine Minderheit befürworte Gewalt, aber der Übergang vom politischen zum dschihadistischen, also gewaltbereiten Salafismus ist nach Auffassung des Verfassungsschutzes fließend.

Abou Nagie vermittle in seinen regelmäßig stattfindenden Vorträgen und Seminaren "die ganze Bandbreite salafistischer Ideologie", erklärt der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz 2011. Der gebürtige Palästinenser biete nicht nur religiöse Handlungsanweisungen an, er thematisiere und befürworte auch das Märtyrertum und den Dschihad im Sinne von Gewaltausübung zur "Verteidigung" des islamischen Glaubens, hieß es in einem entsprechenden Bericht des Verfassungsschutzes.

Deutschland Salafisten in Frankfurt/Main
Die Salafisten-Szene Deutschlands wächst - der Verfassungsschutz geht von fast 8000 Anhängern ausBild: picture-alliance/dpa/B. Roessler

Entlang der Gesetzgebung

Es folgte eine Reihe von Anklagen. Die Vorwürfe lauteten auf Anstiftung zu Straftaten, darunter auch Mord. Im Juni 2012 leitete der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich ein Verfahren ein, um die Gruppe "Die Wahre Religion" verbieten zu lassen. Doch alle Versuche, Abou Nagie oder seiner Organisation etwas anzulasten, blieben erfolglos. Seine Tiraden gegen das tugendlose westliche Leben, gegen Homosexualität und für die Gesetze der Scharia verstoßen zwar gegen in Deutschland allgemein anerkannte Werte - jedoch nicht gegen die Strafgesetze.

Dennoch erscheint vielen die Verteilung des Korans zu ambitioniert, die Rhetorik der Wortführer der "wahren Religion" zu radikal, als dass es sich um eine unbedenkliche Initiative handeln könnte. Zu diesem Schluss kam auch der Verfassungsschutz, der 2015 in seinem Jahresbericht feststellt: An der Kampagne nähmen Personen mit dem Vorsatz teil, "islamistisch zu radikalisieren und dschihadistisch zu rekrutieren". Weiter heißt es: "Es liegen vermehrt Hinweise auf Personen vor, die zunächst an Koranverteilaktionen teilgenommen hatten, um sich danach an den Kämpfen in Syrien zu beteiligen." Schon vor den aktuellen Razzien und dem Verbot des Vereins "Die wahre Religion" waren einige Beteiligte festgenommen worden. 

Abou Nagie aber befand sich weiter auf freiem Fuß. Anfang des Jahres verurteilte ihn das Kölner Amtsgericht wegen gewerbsmäßigen Sozialbetrugs. Es sah als erwiesen an, dass Abou Nagie als Hartz-IV-Empfänger dem Sozialamt Nebeneinkünfte von mehr als 50.000 Euro aus der "Lies!"-Aktion verschwiegen hatte. Die Strafe lautete auf 13 Monate zur Bewährung. Korane in deutschen Fußgängerzonen durfte er weiter verteilen. Bei den Razzien am Dienstagmorgen wurde er nicht festgenommen, Ermittler vermuten ihn derzeit in Malaysia. In dem ostasiatischen Land soll nach Informationen aus Sicherheitskreisen demnächst ebenfalls das Koran-Verteilprojekt "Lies!" an den Start gehen.