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"Ein falscher Zug, und alles ist umsonst"

Holger Hank
7. November 2018

Weltmeister Magnus Carlsen und Herausforderer Fabiano Caruana spielen um den WM-Titel. Deutsche Schachprofis sind derzeit nicht in der Weltspitze. Schach-Bundestrainer Dorian Rogozenco sagt im DW-Interview warum.

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Schach Bundestrainer Dorian Rogozenco
Bundestrainer Dorian RogozencoBild: DSB

DW: Deutschland ist ein Schachland. Der Deutsche Schachbund hat rund 90.000 Mitglieder, in fast jeder Familie gibt es ein Schachbrett. Doch die absolute Spitze kommt aus den USA, China oder Russland, und der aktuelle Weltmeister Magnus Carlsen ist Norweger. Ein Schachweltmeister aus Deutschland ist nicht in Sicht. Woran liegt das?

Dorian Rogozenco: In Deutschland spielen tatsächlich sehr viele Leute Schach. Es gibt sehr viele Vereine, und alles ist sehr gut organisiert. Wenn wir uns das Spitzenniveau anschauen, dann ist die Situation jedoch komplett anders: Wir haben in Deutschland nur sehr wenige Profispieler - das sind vielleicht vier oder fünf im Augenblick. Im Vergleich zu anderen Ländern ist das nichts. Dabei haben wir in Deutschland durchaus viele starke Nachwuchstalente, aber irgendwann müssen sich diese Spieler entscheiden: Mache ich weiter mit Schach oder studiere ich? Und in Deutschland entscheiden sich die Spieler dann meist für das Studium. Der aktuelle Weltmeister Magnus Carlsen hat mit 16 Jahren die Schule verlassen und nur noch Schach gespielt.

Schach-Champion Magnus Carlsen
Carlsen: mit Schach statt Schule an die SpitzeBild: Getty Images/AFP/E. M. Alvarez

Was muss ein junges Schach-Talent tun, um in die Nähe des Weltmeister-Titels zu kommen?

Vor allem muss man leidenschaftlich Schach spielen und extrem viel Zeit für das Training investieren - noch mehr als in vielen anderen Sportarten. Wenn die Nachwuchsspieler nach der Schule an die Universität gehen, verlieren sie die Verbindung zum Schach auf dem höchsten Niveau. Natürlich spielen unsere Spitzenspieler dann weiter Schach, aber sie können sich nicht mehr komplett auf den Sport konzentrieren, und irgendwann machen sie keine Fortschritte mehr. In der absoluten Weltspitze ist vor allem die Einstellung und die Willenskraft entscheidend. Da ist man nur erfolgreich, wenn alles auf den Schachsport ausgerichtet ist.

Wie anstrengend ist Spitzenschach?

Ein Nicht-Schachspieler kann sich nicht vorstellen, wie anstrengend das ist. Um auf dem Top-Niveau zu spielen, muss man sehr viel Sport treiben, sonst hält man das nicht durch. Eine Partie dauert fünf Stunden, die Vorbereitung noch länger. Das schafft man nur, wenn man topfit ist. Und manchmal entscheidet sich dann alles in einer Sekunde. Es kann sein, dass man fünf Stunden brilliant gespielt hat, dann macht man einen falschen Zug, und alles ist umsonst.

Der einzige deutsche Schachweltmeister, Emanuel Lasker, war Anfang des 20. Jahrhunderts über 20 Jahre lang der Titelträger und hat nebenbei noch als Mathematiker geforscht und Bücher geschrieben. Wäre das heute noch möglich?

Das wäre heute völlig unmöglich. Die Spitzenspieler machen fast nichts anderes mehr als Schach zu spielen. Vor allem die intensive Vorbereitung auf die Gegner, die heute zumeist am Computer stattfindet, ist sehr zeitaufwendig.

Schachspieler Emanuel Lasker
Emanuel Lasker: Von 1894 bis 1921 war er als bisher einziger Deutscher Schach-Weltmeister Bild: picture-alliance/akg-images

Wenn Sie als Bundestrainer einmal nach vorne blicken: Wie groß sind die Chancen, dass es in zehn Jahren wieder einmal einen deutschen Spieler mit Chancen auf einen WM-Titel gibt?

Ich arbeite daran, dass wir so jemanden finden und an die Spitze bringen können. Wir haben große Talente wie den 13-jährigen Vincent Keymer, der schon kurz vor dem Großmeister-Titel steht, und Annmarie Mütsch ist gerade U16-Weltmeisterin geworden. Ich hoffe sehr, dass wir in den nächsten Jahren wieder in die Nähe der absoluten Weltspitze kommen, aber wir müssen in Deutschland realistisch bleiben: Das wird ein langer Weg.

In London spielen Titelverteidiger Magnus Carlsen und der US-Amerikaner Fabiano Caruana um die Weltmeisterschaft. Wer ist Ihr Favorit?

Die beiden sind ungefähr gleich stark, und es wird auf jeden Fall ein ausgeglichener Wettkampf. Jedoch zeigt im Moment Caruana meines Erachtens etwas besseres Schach, während Magnus Carlsen es nicht ganz geschafft hat, in den letzten Partien seine Bestform zu erreichen. Deswegen würde ich sogar Caruana als Favorit etwas bevorzugen.

Dorian Rogozenco (Jahrgang 1973) ist seit 2014 Bundestrainer des Deutschen Schachbunds und betreut die deutschen Schach-Nationalmannschaften. Rogozenco ist in Moldawien geboren und lebt seit 1995 in Deutschland. Der Schach-Großmeister ist Autor diverser Fachbücher und diplomierter Sportlehrer.

Das Interview führte Holger Hank.