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"Schengen ist Europas größte Errungenschaft"

Friedel Taube5. Oktober 2015

Ein Europa ohne Grenzkontrollen - ist das angesichts der Flüchtlingskrise noch zeitgemäß? Ja, sagt Wichard Woyke im DW-Interview. Das Problem seien nicht die offenen Grenzen, sondern die Umsetzung der Asylregelung.

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Bundespolizei Passkontrolle (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/M. Becker

Das Schengener Abkommen wird 30 Jahre alt. Doch ausgerechnet in seinem Jubiläumsjahr steht die Vereinbarung über den Abbau der Grenzkontrollen innerhalb der EU so stark wie nie in der Kritik. Millionen von Flüchtlingen sind auf dem Weg durch Europa. Wer wo welche Grenze übertritt, ist für die Behörden oft nicht nachvollziehbar. Am Mittwoch treffen sich die Innenminister mehrerer EU-Staaten im luxemburgischen Esch-Belval, um über Chancen und Herausforderungen des Schengener Abkommens zu diskutieren. Die DW hat vorab mit Politikwissenschaftler Wichard Woyke gesprochen.

Deutsche Welle: Die Flüchtlingskrise wird zur Nagelprobe für die EU. Ist das Schengener Abkommen in seiner jetzigen Form noch zeitgemäß?

Wichard Woyke: Das Schengener Abkommen ist ja kein "Abkommen" mehr im ursprünglichen Sinne, sondern es ist seit 1999 Teil des EU-Rechts. Und EU-Recht geht vor nationalem Recht. Das bedeutet, dass diese Angelegenheiten von der EU wahrgenommen werden müssen.

Müsste es reformiert werden?

Das dürfte schwierig werden. Wir haben ja gesehen, dass es funktioniert. Wir haben vor kurzem den Europäischen Rat gehabt, der eine klare Mehrheitsentscheidung - gegen den ausdrücklichen Willen von einigen Staaten - zu einer Quotenregelung der Flüchtlingsverteilung gefällt hat. Neue gesetzliche Regelungen würden also gar nichts bringen.

Wichard Woyke (Foto: Uni Münster)
Wichard WoykeBild: Wichard Woyke

Ungarn beispielsweise lässt Flüchtlinge ohne Registrierung weiterreisen. Laut Dublin-Regelung müsste das Land sie aber registrieren und ihren Asylantrag bearbeiten. Ist diese Regelung dadurch nicht eigentlich tot?

Sie ist zumindest für einen großen Teil außer Kraft gesetzt. Daran war die Bundesrepublik aber auch mit schuld - so großherzig die Geste von Frau Merkel auch war, die Flüchtlinge (aus Ungarn, Anm. d. Red.) einreisen zu lassen. Das hat mit dazu geführt, dass die Registrierung nicht in dem EU-Land vorgenommen werden konnte, in dem die Flüchtlinge die EU erstmals betreten hatten. Das ist aber das Gesetz der großen Zahl. Die Frage ist jetzt, ob die Dublin-Regelung bei so einer großen Zahl tragbar ist - und da habe auch ich meine Zweifel.

Wird Schengen zur Gefahr für die EU als solche werden, einfach aufgrund der großen Zahl von Flüchtlingen, die sich frei durch Europa bewegen?

Nein, das denke ich nicht. Ganz im Gegenteil: Das, was Schengen bedeutet - also die Reisefreiheit - ist ein Riesenvorteil. Man passiert Grenzen, ohne dass man kontrolliert wird, von Malaga bis hoch zum Nordkap. Schengen ist die größte Errungenschaft Europas und das wird auch von den Gesellschaften der Länder, die 2004 und später in die EU gekommen sind, so gesehen. Man wird alles tun, um diese Errungenschaft weiter aufrecht zu erhalten. Dass die EU daran zerreißt - das halte ich für nicht möglich.

Sie haben die "Großherzigkeit" der deutschen Bundesregierung angesprochen. Welche Risiken birgt diese denn?

Ein Risiko besteht darin, dass die Geste als Zeichen an andere Ausreisewillige gewertet werden könnte, nach Deutschland zu kommen. Unser Asylrecht ist ja nicht so, dass es unendlich wäre. Es gibt eine Obergrenze - zwar nicht in der Theorie, aber in der Praxis. Und, wie bereits angesprochen, besteht die Gefahr, dass das Dublin-Abkommen in Teilen außer Kraft gesetzt wird. Die Vertragstreue der Deutschen war hier nicht gegeben.

Wichard Woyke ist Politikwissenschaftler. Er lehrte Europapolitik an der Universität Münster und gilt als einer der bedeutendsten deutschen Experten für internationale Politik.

Das Interview führte Friedel Taube.