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Die sieben Tage bis zur Wirecard-Pleite

Arno Schuetze u.a./Reuters
9. Juli 2020

Der Bilanzskandal um den Zahlungsdienstleister Wirecard dürfte als einer der größten Betrugsfälle in die deutsche Wirtschaftsgeschichte eingehen. Die letzten Tage bis zum Offenbarungseid.

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Firmengebäude Wirecard AG
Bild: picture-alliance/J. Niering

James Freis freute sich sicher auf seinen neuen Job. Als Vorstand von Wirecard für "Integrität, Recht und gute Unternehmensführung" würde er nach sechs Jahren als Compliance-Manager bei der Deutschen Börse in Frankfurt endlich wieder mehr Zeit in seiner amerikanischen Heimat verbringen können. Zuletzt hatte es immer wieder nur für einen Abstecher über das Wochenende gereicht. Bald würden Dienstreisen in die USA, wo er auch die Geschäfte eine der wichtigsten Töchter des Zahlungsabwicklers verantworten wollte, wieder dazugehören.

Freis dürfte bei seiner Ernennung zum Wirecard-Vorstand nicht geahnt haben, dass er wenige Wochen später eine zentrale Figur in einem der größten Wirtschaftskrimis der deutschen Geschichte sein würde.

Am späten Abend des 18. Juni stand der Amerikaner, im grauen Sakko und offenen Hemd, eifrig nickend neben Markus Braun. Der langjährige Wirecard-Chef stellte ihn in einer Video-Botschaft als neuen Vorstand für Compliance vor, zwei Wochen früher als geplant. Freis war vorzeitig nach München gekommen, um eine Wohnung zu suchen. Ein Glück, dass er damit so schnell greifbar war. Denn spätestens seit dem Vormittag war klar: "Compliance", zu Deutsch die Einhaltung von Gesetzen und Regeln, war der wunde Punkt bei Wirecard. Die Abschlussprüfer von EY hatten das Testat unter der Bilanz verweigert, weil sie Bankbelege über 1,9 Milliarden Euro für gefälscht hielten.

Mittlerweile verhaftet und gegen Kaution wieder auf freiem Fuß: Ex-Wirecard-Chef Markus Braun
Mittlerweile verhaftet und gegen Kaution wieder auf freiem Fuß: Ex-Wirecard-Chef Markus BraunBild: picture-alliance/AP Photo/M. Schrader

Jahrelang hatte es immer wieder Gerüchte gegeben, dass bei dem rapide wachsenden Unternehmen vor allem in Asien vieles nicht mit rechten Dingen zuging. Die "Financial Times" widmete ihren Zweifeln an dem aufstrebenden Börsenstar aus Bayern eine ganze Artikelserie. Doch schaffte es Braun, ein 50-jähriger Österreicher, immer wieder, Anleger, Analysten und Prüfer zu beschwichtigen. Selbst als die Wirtschaftsprüfer von KPMG Ende April in ihrer Sonderprüfung Wirecard eine verbale Ohrfeige um die andere verpassten, erholte sich die Aktie wieder.

Doch diesmal war es anders. Wirecard sei wohl Opfer eines Betrugs "beträchtlichen Ausmaßes", hatte Braun gesagt, ganz am Ende des zweieinhalbminütigen Videos. Freis horchte auf: Dass Wirecard 1,9 Milliarden Euro von einem obskuren Treuhänder aus Manila auf Konten bei zwei philippinischen Banken parken ließ, kam ihm seltsam vor, wie ein Insider sagte. Finanzkriminalität also - das war Freis' Domäne. Mitten in der Finanzkrise, von 2007 bis 2012, hatte er schließlich als Jurist für das US-Finanzministerium in Washington gearbeitet, für das Financial Crimes Enforcement Network (FinCEN) und für die gefürchtete Financial Intelligence Unit (FIU).

Wo ist der Haken?

Freis schlief nicht in dieser Nacht auf den 19. Juni, wie sich zwei Insider erinnern. Er vergrub sich in seinem neuen Büro in der Wirecard-Zentrale im Gewerbegebiet des Münchner Vororts Aschheim in die Bücher und Dokumente. Danach habe er keine Zweifel mehr gehabt, sagt ein Kenner der Vorgänge: Dass es sich um Betrug handelte, hätte jeder sehen müssen, der sich auskenne mit Finanzmärkten. Solche Konten mit solchen Summen bei Banken in diesen Ländern gebe es schlicht nicht. Wirecard wollte sich zu den Vorgängen nicht äußern.

Freis war offensichtlich der Richtige für die Aufgabe: "Es ist beeindruckend, wie schnell er fremde und komplexe Themen erfasst", erinnert sich ein Weggefährte aus Deutsche-Börse-Zeiten an ihn: "Er wirft einen Blick auf die Fakten und sieht sofort, wo der Haken ist." Morgens meldete er seine Erkenntnisse dem Aufsichtsrat, mittags war klar, dass der gefeierte Börsen-Star Braun untragbar geworden war.

Kaum 24 Stunden nach seinem Antritt bei Wirecard war Freis der Chef - der Interims-Chef eines Unternehmens, das ums Überleben rang. Denn ohne testierte Bilanz hatten die Banken das Recht, noch am gleichen Tag 1,3 Milliarden Euro an Krediten zu kündigen.

Freis musste kämpfen. Dass er das kann, war seinen Freunden aus dem Frankfurter Ruderclub Germania klar. Im vergangenen Jahr hatte der begeisterte Ruderer "Jim", wie ihn alle nennen, mit 49 Jahren noch an internationalen Wettkämpfen der Senioren-Klasse teilgenommen, im Achter, Vierer und Doppelzweier. Kein Einzelkämpfer - bei allem Ehrgeiz, der ihn auch außerhalb des Jobs auszeichnet, so beschreibt ihn ein Crewkamerad. "Er erwartet auch von den anderen im Boot, dass sie sich ordentlich reinhängen. Aber er will nicht der Wortführer sein, er sortiert sich ein, ein klassischer Teamplayer."

Bei Wirecard gab es kein Team mehr. Braun war weg, zuhause in Wien. Drei Tage später stellte er sich der Staatsanwaltschaft in München, Brauns langjähriger Vertrauter Jan Marsalek blieb dagegen verschwunden.

Am Ende stirbt auch die Hoffnung

Noch am Wochenende ließ Freis die Banken zusammentrommeln, wie mit den Abläufen vertraute Personen sagten. 15 Institute, allen voran die Commerzbank. Gleichzeitig riefen er und die eilig angeheuerten Sanierungsexperten auf den Philippinen an, um seinen Verdacht zu bestätigen: "Wirecard? Haben wir nicht als Kunden", ließen die zwei Banken ausrichten. Die Konten gebe es nicht, die Saldenbestätigungen seien wohl gefälscht. Kurz vor drei Uhr morgens ließ Freis am Montag die Bombe platzen: Die 1,9 Milliarden Euro würden "mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestehen", hieß es in der Pflichtmitteilung an die Börse, die er Insidern zufolge persönlich formulierte. Mehr noch: das ganze Geschäft mit Partnern in Asien - der angebliche Wachstumstreiber von Wirecard - müsse angezweifelt werden.

Noch hatte Freis Hoffnung: Die Banken waren bereit, die 1,3 Milliarden Euro zu stunden, erstmal bis Ende des Monats, wenn die Gehälter fällig würden. So lange jedenfalls, bis man sehen könnte, was vom Unternehmen und dem Geld zu retten sei, wie ein Sanierungsberater berichtet.

Das Sagen hat der Insolvenzverwalter

Doch zwei Tage später musste Freis dem Experten zufolge erkennen: Der Kampf war aussichtslos, der Strom zu stark. Denn die Finanzaufsicht BaFin schottete die Wirecard Bank vom Rest des Konzerns ab, damit sie nicht in den Abwärtsstrudel geriet. Kein Geld sollte mehr in Richtung Aschheim fließen - aber wie dann Gehälter zahlen? Und selbst wenn sich das lösen ließe und die Banken die Darlehen verlängerten: Wie sollte Wirecard das Geld jemals zurückzahlen, wenn es einen Großteil des Geschäfts - und der Gewinne - nicht gab? In drei bis sechs Monaten wäre Wirecard dann doch bankrott - und sein Zögern könnte ihn, Freis, vor Gericht bringen, erklärt der Berater die Lage.

Es half nichts. Genau sechs Tage, 23 Stunden und 44 Minuten nach dem verweigerten Testat von EY kündigte Freis an, Wirecard werde zum Insolvenzrichter gehen. Das Sagen in Aschheim hat nun Insolvenzverwalter Michael Jaffe, ein Mann, der viel Erfahrung hat mit kriminellen Machenschaften, die in die Pleite führen. Er sieht Chancen, die Reste des Konzerns zugunsten der Gläubiger zu verwerten. Ein paar hundert Millionen Euro könnte das bringen, auch wenn der Ruf ruiniert ist.

"Es gibt viel echtes Geschäft, es gibt Kunden und Endnutzer. Die überwiegende Mehrheit der Mitarbeiter hatte nichts mit dem Betrug zu tun", sagt ein mit der Lage Vertrauter. Und Freis? Er ist immer noch Vorstandschef von Wirecard, bis ihn Jaffe nicht mehr braucht, voraussichtlich irgendwann im Herbst.