Schlaflos in Sofia
26. Juli 2013"Bulgarien leidet unter einer Mafia-Regierung" steht auf einem Schild, das ein weißhaariger Demonstrant mittleren Alters hochhält. Pravdolub Ivanov kommt jeden Abend mit einem neuen Plakat zum Regierungsgebäude in Sofia, um zu demonstrieren. Seine Botschaften sind clever, humorvoll und immer aktuell, weshalb er oft von Passanten oder Touristen fotografiert wird. Als die Demonstranten beschuldigt wurden, Geld für Ihre Proteste zu nehmen, hatte Ivanov ein Plakat mit dem Slogan: "Ich werde nicht bezahlt. Ich hasse euch umsonst."
Tausende kommen jeden Abend
Seit anderthalb Monaten laufen die Proteste gegen die bulgarische Regierung. "Das Demonstrieren beschäftigt mich jeden Tag mehrere Stunden", sagt Ivanov. "Ich musste meinen Tagesablauf umplanen, und darunter leiden meine Arbeit und meine Familie. Meine Frau ist jetzt komplett für unsere zwei kleinen Kinder zuständig."
Tausende von Leuten kommen jeden Abend am Regierungsgebäude zusammen, um den Rücktritt der Regierung von Ministerpräsident Plamen Orescharski zu fordern. Die ehemalige kommunistische BSP Partei, die DPS Partei der muslimischen Minderheit und die nationalistische und anti-europäische "Attack" Partei unterstützen die Regierung.
"Ich muss hier sein, weil wir unser Land aus den Händen der Mafia befreien müssen", sagt Ivanov, der als Maler arbeitet, wenn er nicht demonstriert. Die Protestbewegung entstand Mitte Juni, nachdem das Parlament Delyan Peevski als Chef der mächtigen nationalen Sicherheitsagentur bestätigte. Der 33-Jährige ist Medienmagnat, Beamter, Geschäftsmann und Politiker. Eine Woche nach seiner Ernennung gab die Regierung dem Druck nach, Peevski musste gehen, aber die Proteste gingen weiter und wurden stärker.
Tihomira Metodieva, eine junge Buchhalterin und Hobby-Fotografin, sagt die Regierung sei zu weit gegangen mit der Ernennung von "solchen Leuten". Es sei nicht normal, "dass Kriminelle das Land regieren." Metodieva kommt jeden Abend zu den Demonstrationen, und dann wieder einige Stunden später zum "Kaffeetrinken" vor dem Parlament. So nennen die Demonstranten ihre morgendlichen Proteste. "Wenn ich Kunden Dokumente übergeben muss, oder ihre Unterschrift bei Bankunterlagen brauche, sage ich ihnen, sie sollen hierher kommen", erzählt Metodieva. Im Gegensatz zu Ivanov hat sie so einen Weg gefunden, Arbeit und Protest unter einen Hut zu bringen.
"Mafia" ist das Wort, das einem auf den Demonstrationen am häufigsten begegnet. Dafür sind keinerlei Parteilogos oder Politiker zu sehen, nur die Nationalflagge. Jüngste Umfragen eines Instituts in Sofia haben ergeben, dass eine Rekord-Anzahl von 72 Prozent der Bulgaren die Situation in ihrem Land als "unerträglich" ansieht. Mehr als zwei Drittel der Menschen unterstützen die Protestbewegung. Der Aufstand hat keinen Anführer oder politische Richtung, gewinnt aber trotzdem stetig an Unterstützung aus dem Volk. Politiker werden beschuldigt, dem organisierten Verbrechen zuzuarbeiten, alle öffentlichen Mittel Oligarchen zu überlassen, und Monopole zu festigen.
Die Menschen vor dem Regierungsgebäude haben unterschiedliche Antworten auf die Frage, was als Nächstes kommen soll. Aber sie sind sich vollkommen einig darüber, was sie in diesem Moment wollen: "Sie sollen zurücktreten, mehr verlange ich nicht. Wir alle fordern den Rücktritt der Regierung", sagt Buchhalterin Metodieva.
Victor Dimchev ist Fernsehproduzent und Mitglied einer Gruppe, die den Demonstranten per Internet hilft, sich zu organisieren. Die Gruppe koordiniert Veranstaltungen und hält Ausschau nach Provokateuren. "Ich bin hierher gekommen, weil meiner Meinung nach die Regierung Bulgarien in den Untergang führt", sagt Dimchev.
Am Mittwochabend (24.07.13) konnte die Menge eine kleine Gruppe Protestierender nicht davon abhalten, Pflastersteine aus der Straße zu brechen. Die Polizei erklärte die Proteste daraufhin für nicht mehr friedlich. Dann ging alles ganz schnell: Demonstranten wurden geschlagen und Sicherheitsleute versuchten, Abgeordnete und Minister aus der belagerten Nationalversammlung herauszubringen.
Weinende Polizisten
"Ich war dabei. Ich habe gesehen, wie sie Frauen geschlagen haben, ich habe blutende Menschen gesehen, ich habe fliegende Steine gesehen und ich habe unbeeindruckte Polizisten gesehen, die sich die Provokateure einfach nur angeschaut haben", erinnert sich Dimchev. "Da waren wütende Polizisten, aber auch weinende Polizisten. Die haben geweint, während sie Demonstranten geschlagen haben." Am nächsten Tag kamen doppelt so viele Menschen, um zu protestieren, und die Menge war enthusiastischer als je zuvor.
Dimiter Dimitrov, Professor für Politikwissenschaft an der Universität von Sofia, sagt, die Regierung könne nicht ewig so weiter machen: "Parlamentssitzungen können nicht immer vor Sonnenuntergang enden, und die Abgeordneten können nicht jede Nacht mit Bussen weggebracht werden. Das ist doch surreal."
Nach 42 Protesttagen "ist die Müdigkeit enorm", sagt Tihomira Metodieva, die Buchhalterin. "Ich schlafe nur drei Stunden am Tag, aber ich gebe nicht auf. Die müssen aufgeben."
Als die Sonne über dem 42. Abend der Unruhen in Sofia untergeht, schüttelt Fernsehproduzent Victor Dimchev die Hände von Neuankömmlingen, die fast im Minutentakt eintreffen. "Ich habe all meine Freunde gebeten, heute Abend hierher zukommen", sagt Dimchev. "Ich werde heute 35, und das ist das beste Geschenk, das ich mir vorstellen kann."