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Schlaganfall in jungen Jahren

Silja Thoms
10. Mai 2022

Schlaganfall mit 32 Jahren - das erlebte Andrea Süss und lebt seitdem mit den Folgen. Über unklare Ursachen und den Weg einer jungen Frau zurück in ihren Alltag.

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Ärzte und Pfleger heben eine Schlaganfallpatientin hoch
Jährlich erleiden in Deutschland etwa 270.000 Menschen einen SchlaganfallBild: HANS PUNZ/APA/picture alliance

Der Tag, an dem Andrea Süss dachte, sie habe ihr Augenlicht verloren, liegt fünf Jahre zurück. Damals dachte sie auch, sie habe möglicherweise nur einen Kreislaufzusammenbruch. Dass es vielleicht nur jenes Gefühl ist, wenn alles vor den eigenen Augen verschwimmt, wenn der Körper in sich zusammensackt und für einen kurzen Moment nichts mehr zu sehen ist.

An eines dachte sie als 32-jährige Frau, die kurz zuvor einen Marathon gelaufen war, ihr erstes Kind zur Welt gebracht hatte und körperlich fit war, ganz bestimmt nicht: Dass sie einen Schlaganfall erlitten haben könnte. 

"Ich kannte die Symptome damals nicht wirklich", erzählt die jetzt 37-Jährige, als sie sich an den Moment ihres Schlaganfalls zurückerinnert. An den Moment, in dem sie ins Krankenhaus kam und erst einmal nicht wusste, was mit ihr passiert.

Bei einem Schlaganfall sterben Nervenzellen im Gehirn, wenn sie zu lange von der Blutzufuhr abgeschnitten sind. Süss erlitt mit 32 Jahren einen sogenannten juvenilen Schlaganfall - ein Schlaganfall in jungem Alter. Meist betrifft dies die Altersspannen zwischen 18 bis 40 oder bis 55 Jahren.

Obwohl das Risiko für Erwachsene jungen und mittleren Alters vergleichsweise gering ist, steigt die relative Zahl der Schlaganfälle bei jungen Menschen seit Jahren stetig an. Rund 15 Prozent der Schlaganfälle in Deutschland werden Menschen unter 55 Jahren festgestellt. Das sind laut einer im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichten Studie etwa 30.000 Fälle pro Jahr.

Infografik zeigt das Schlaganfallrisiko nach Geschlecht. Jedes Jahr ereignen sich 43 Prozent aller Schlaganfälle bei Männer und 57 Prozent bei Frauen.

Weltweit sind es nach Angaben der World Stroke Organization jedes Jahr 16 Prozent im Alter von 15 bis 49 Jahren. Zudem erleiden 44 Prozent mehr Frauen unter 35 Jahren einen ischämischen  Schlaganfall als Männer derselben Altersgruppe, wie eine amerikanische Studie 2022 zeigt. Bei der Altersgruppe zwischen 35 und 49 Jahren gibt es noch widersprüchliche Angaben, ob Männer oder Frauen stärker betroffen sind. Ein ischämischer Schlaganfall entsteht, wenn Gehirnzellen nicht mehr mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt werden, weil der Blutfluss in einer Arterie unterbrochen wird. Er wird auch Hirninfarkt genannt. 

Es gibt verschiedene Arten von Schlaganfällen. Neben dem ischämischen Schlaganfall gibt es zum Beispiel den hämorrhagischen Schlaganfall, bei dem ein Gefäß im Gehirn platzt oder eine Gefäßwand einreißt, und das austretende Blut auf das Hirngewebe drückt. In allen Altersgruppen und bei allen Schlaganfallarten sind Frauen laut der World Stroke Organizsation jährlich stärker betroffen.

Folgen eines Schlaganfalls: Wieder bei null anfangen

Für Süss war die Zeit nach dem Schlaganfall wie ein Neuanfang, "wenn alles wieder bei null anfängt." Sehstörungen gehörten für sie damals nur zu den ersten Symptomen. Sie begann, ihre Erfahrungen auf einem Blog zu teilen. Dort schrieb sie: "Mit jedem Tag und jeder Woche kamen neue Dinge raus, die ich nicht mehr konnte."

Sie verhaspelte sich, konnte Wörter nicht mehr aussprechen, verlernte Rechtschreibung und Grammatik. "Ich wusste zum Beispiel nicht mehr, wie man Schrank schreibt", erzählt sie.

Sie verlor durch den Schlaganfall auch ihren Orientierungssinn. "Ich war einmal im Supermarkt und wollte nur Saft holen, als ich plötzlich nicht mehr wusste, wohin ich muss oder woher ich kam."

Hinzu kamen eine linksseitige Parese (eine Lähmung) und eine Fußheberschwäche, bei der Patientinnen und Patienten keine oder nur wenig Kontrolle über das Anheben, Aufsetzen und Abrollen des Fußes haben.

Sie musste von Grund auf neu lernen: "Meine Tochter hat gelernt, Bauklötze aufeinander zu stapeln. Ich habe genau das zur gleichen Zeit gelernt wie sie, wie meine kleine Tochter", erzählt sie. Sie ist stolz darauf, das geschafft zu haben.

Auch heute muss Süss weiter mit den Folgen leben. Sie hat noch eine Aphasie, eine Sprachstörung, die oft nach einem Schlaganfall entsteht. Außerdem kämpft sie bis heute zum Beispiel mit ihrer Fußheberschwäche und kognitiven Problemen. Sport zu machen wie früher ist nicht mehr möglich. Doch Süss bleibt positiv. Vor ein paar Jahren begann sie ein Studium. Erst vor wenigen Wochen schloss sie ihr Studium in Steuerrecht ab und lacht, als sie sagt, dass irgendetwas da oben in ihrem Kopf noch ganz gut zu funktionieren scheint, dass sie noch immer gut lernen könne. "Das Studium war wie eine Therapie für mich", erzählt sie. 

Andrea Süss, eine junge Frau. hält einen Kaffeebecher in der Hand
Andrea Süss erlitt mit 32 Jahren einen Schlaganfall und lebt seitdem mit den FolgenBild: privat

Ursachen für einen Schlaganfall in jungen Jahren oft unklar

Die Ursache für ihren Schlaganfall kennt Süss bis heute nicht. Sie war sportlich, lebte gesund, lief regelmäßig Marathon.

Sie erinnert sich gerne an den Moment, als sie mit ihrer Tochter in den Armen die letzten paar Meter zur Ziellinie des Bonner Marathons lief - vor ihrem Schlaganfall. "Meine Tochter war die Jüngste, die je über die Ziellinie gelaufen ist", sagt sie und es schwingt Stolz in ihrer Stimme mit. 

Tatsächlich lassen sich die Ursachen für einen Schlaganfall nicht immer genau feststellen. Allgemein steigt das Risiko für einen Schlaganfall, wenn Menschen übergewichtig sind, viel rauchen oder trinken und dadurch einen hohen Blutdruck oder Diabetes haben.

Das allein deckt jedoch nicht alle Risikofaktoren ab. Eine US-amerikanischeStudie aus dem Jahr 2021 zeigt, dass das Risiko eines Schlaganfalls bei Frauen und Männern mit Migräne mit Aura um circa 2,5 Mal erhöht ist.

Es gibt weitere Risikofaktoren, die besonders Frauen betreffen. Dazu gehören Herzrhythmusstörungen wie Vorhofflimmern oder die Einnahme der Pille. Doch Süss gehört zu einer der Patientinnen, die das Krankenhaus ohne Wissen über eine eindeutige Ursache wieder verlassen musste.

Laut Hans Joachim von Büdingen, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie am Neurozentrum Ravensburg wird die Ursache des Schlaganfalls bei etwa 30 Prozent der Patienten und Patientinnen nicht erkannt.

Was ist wichtig für die Schlaganfallnachsorge?

Neurologe von Büdingen ist Spezialist auf dem Gebiet der Nachsorge für Schlaganfallpatienten und konzipierte die Seite Schlaganfall-Begleitung ​​​​​mit, die sich speziell um die Nachsorge dreht.

"Die Schlaganfallnachsorge muss sektorenübergreifend sein", erklärt er. Das bedeutet, dass die Nachsorge sowohl das Krankenhaus als auch die Rehabilitation, Hausärzte und Therapeuten mit einschließen müsse.

"Der Patient muss in einem Netz aufgefangen werden", sagt von Büdingen. Es gelte schließlich, eine schwerwiegende Krankheit zu überwinden. Und die Programme der Nachsorge sollten sich am besten an den Bedürfnissen der Patienten und Patientinnen und ihrer Angehörigen orientieren.

Zu den wichtigsten Punkten bei der Nachsorge gehören laut von Büdingen, dass "die Patienten verstehen, was ein Schlaganfall ist und wie und warum sie behandelt wurden." Das sei entscheidend, damit Patienten verstünden, warum es sinnvoll sei, den Blutdruck zu messen und die Medikamente regelmäßig einzunehmen. 

Wie wird der Schlaganfall behandelt?

Der Weg zurück in den Alltag

Der Facharzt schätzt die Wahrscheinlichkeit, dass junge Menschen nach einem Schlaganfall wieder zurück in ihren Beruf finden, als "recht gut" ein: "Das Gehirn ist plastisch. Das bedeutet, dass verloren gegangene Funktionen teilweise oder sogar vollständig wieder ersetzt werden können", erklärt er. Die Nachsorge lohne sich daher besonders bei jungen Menschen immens. 

Trotzdem mussten Süss und ihre Familie sich auf die neuen Bedingungen einstellen. "Ich hatte große Unterstützung durch meinen Mann und meine Mutter. Ohne sie wäre es nicht gegangen", erzählt sie.

Die Tochter die Treppen hochtragen, um sie ins Bett zu bringen war damals undenkbar für sie. "Das war ein zu großes Risiko, dass ich sie fallenlasse."

Laut der im deutschen Ärzteblatt veröffentlichten Studie Juvenile Stroke aus dem Jahr 2017 haben 11 Prozent aller jungen Patienten nach einem ischämischen Schlaganfall starke Beeinträchtigungen. Süss sagt, sie sei gerne das Beispiel gegen die Statistik.

Sie geht jede Woche zu ihren Therapiestunden, nimmt jeden Termin wahr. Zweimal die Woche Physiotherapie, einmal die Woche Logopädie, normalerweise auch die wöchentliche Ergotherapie. Die pausiert nur zurzeit, denn Süss ist ein zweites Mal schwanger.