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Politik

"Schluss mit dem neoliberalen Irrweg!"

23. September 2018

In den jüngsten Meinungsumfragen ist die SPD nicht mehr zweitstärkste Partei und wird von der AfD verdrängt. Im Interview der Woche sagt der Historiker Peter Brandt, was die Sozialdemokraten jetzt unbedingt tun müssen.

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Historiker Peter Brandt
Bild: picture-alliance/dpa/B. Reichert

Peter Brandt: "Nicht jeder Rechte ist ein Nazi."

17 Prozent laut neuestem ARD-Deutschlandtrend. Wer gedacht hat, die SPD würde sich in der Regierung langsam stabilisieren, sieht sich getäuscht. Die Diskussion um Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen lässt die Sozialdemokraten in der Wählergunst noch weiter abrutschen, und ein Ende scheint nicht in Sicht. Für Peter Brandt, den ältesten Sohn des früheren Bundeskanzlers Willy Brandt, ist der Abwärtstrend nur zu stoppen, wenn die SPD "sich wieder auf die Masse des arbeitenden Volkes orientiert und nicht an Sonder- und Randgruppen der Gesellschaft".

Bildergalerie 60 Jahre Bild Wahlkampf und Bild 1972
Brandt: "Ich habe meinen Vater mein Leben lang geschätzt und manche seiner politischen Aktionen auch bewundert"Bild: picture-alliance/dpa

Willy Brandt hatte es 1972 vorgemacht. Im September, zwei Monate vor der Bundestagswahl, lag die SPD in Umfragen beinahe hoffnungslos zehn Prozentpunkte hinter der Union mit ihrem Kanzlerkandidaten Rainer Barzel zurück. Doch dann schafften es die Sozialdemokraten, die Wähler aufzurütteln – eine Mobilisierung, die es danach nie wieder im deutschen Wahlkampf gegeben hat. Mit der eingängigen Botschaft "Willy wählen" erzielte die SPD mit 45,8 Prozent das beste Ergebnis ihrer Geschichte, die Wahlbeteiligung lag bei unglaublichen 91,1 Prozent. "Die SPD hat es damals den Spagat geschafft, unterschiedliche Gruppen um ein politisches Programm zu integrieren", erklärt Peter Brandt, "das hat sie bis heute nie wieder so geschafft".

SPD muss soziale Frage wieder in den Mittelpunkt ihrer Politik stellen

Heute, 46 Jahre später, hat die SPD allerdings harte Konkurrenz: auch die Grünen und die Linke buhlen um Wählerstimmen im linken Lager, für Brandt schaffe es aber keine der drei Parteien, "bei ihren eigentlichen Adressaten, also dem arbeitenden Volk, anzukommen." Der Vorwurf, den sich die SPD häufig gefallen lassen muss, geht allerdings noch weiter: die Sozialdemokraten hätten ein Vakuum hinterlassen, das die rechtspopulistische AfD gefüllt habe. "Die SPD hat sich bei der sozialen Frage, die ja eigentlich der Kern von linker Politik ist, zu stark zurückgezogen", stimmt der Historiker dem zu.

Symbolbild Rechtsextreme in Chemnitz
"Die Neonazis versuchen, die Richtung in der rechten Bewegung zu verschärfen"Bild: Reuters/M. Rietschel

Das Erstarken von rechten Parteien in ganz Europa sieht Peter Brandt mit großer Sorge. "Die Rechtspopulisten haben es geschafft, sich tief in die klassische Klientel der Linksparteien, also auch der Sozialdemokratie, einzugraben und dort Erfolge zu erzielen", erklärt er deren Rezept. Die Ausschreitungen in Chemnitz, die Hitlergrüße und faschistischen Parolen haben den 69-Jährigen "entsetzt", aber: "Nicht jeder Rechte ist ein Nazi. Die Tendenz nach Rechtsaußen wird größer, aber einen gewissen Bodensatz von Nazis gab es immer seit dem Zweiten Weltkrieg."

Sammlungsbewegung "aufstehen" als linker Ideengeber

Peter Brandt sieht sich persönlich in der Verantwortung, diesem Trend entgegenzutreten. Deshalb macht er mit bei der linken Sammlungsbewegung "aufstehen", obwohl große Teile der SPD die Bewegung unter Führung der Linken-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht ablehnen. "Es braucht Anstöße von außen", verteidigt Peter Brandt seine Position. "Es geht darum, dass die Parteien, so wie sie existieren, nicht zerstört werden, sondern darum, sie zu bewegen, zu mobilisieren und auch zu beeinflussen".

Dabei hätte es die Sammlungsbewegung von heute wahrscheinlich gar nicht gebraucht, wenn die SPD die Bundestagswahl 2017 gewonnen hätte. Mit den für Brandt durchaus stimmigen Themen Gerechtigkeit und Solidarität. "Der Ansatz war richtig, aber die SPD ist nicht konkret geworden". Peter Brandt glaubt, dass es ein Potenzial von über 40 Prozent Wählerstimmen gegeben habe, "aber dann hat sich Kanzlerkandidat Martin Schulz von seinen Beratern leider fast zu einem politischen Neutrum machen lassen, gegen das bessere eigene Empfinden".

Warschau Kniefall Willy Brandt 1970
"Der Kniefall war ja auch nicht irgendwo in Warschau, sondern am Denkmal des Warschauer Ghettos"Bild: Imago/Sven Simon

Kniefall von Warschau ewiges Vermächtnis von Willy Brandt

Ein Willy Brandt hätte diesen Fehler wahrscheinlich nicht begangen und nur auf seine eigene Intuition gehört. Auch auf die Gefahr hin, dafür zunächst keine Mehrheiten zu bekommen. Brandt nennt im Interview der Woche das Beispiel Entspannungspolitik. Und natürlich den weltberühmten Kniefall von Warschau. Seinen damals 22 Jahre alten Sohn hat sehr bewegt, "dass jemand, der persönlich völlig unbelastet ist, für sein Volk Abbitte leistet für die Verbrechen, die geschehen sind." Auf die Frage, was Peter Brandt seinem Vater sagen würde, wenn er noch leben würde, entgegnet der Historiker deshalb: "Dass er für viele Menschen, auch solche, die ihn teilweise kritisiert haben, Bedeutendes bewirkt hat."

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur