Schluss mit dem "Schwulenparagrafen" 175
11. Juni 2019Das Jahr 1994 ist in die Geschichte eingegangen. In Südafrika wurde Nelson Mandela zum ersten schwarzen Präsidenten von Südafrika vereidigt. In Europa wurde der Eurotunnel zwischen Großbritannien und Frankreich für Autoverkehr freigegeben, und auch in Deutschland ereignete sich etwas Historisches.
Für den früheren Bundesanwalt Manfred Bruns ist es "die pure Erleichterung": Jahrzehntelang hatte Bruns, selbst homosexuell, für die Abschaffung des Paragrafen 175 gekämpft. Am 11. Juni 1994 war es schließlich so weit: Der sogenannte Schwulenparagraf, der noch aus der Kaiserzeit stammt, wurde aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Damit endete die gesetzliche Verfolgung von Homosexuellen in Deutschland, die über ein Jahrhundert lang andauerte.
Der Geist der Nazis
Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 war auch der sogenannten Schwulenparagraf eingeführt worden, um "widernatürliche Unzucht" zwischen Männern mit bis zu sechs Monaten Gefängnis zu bestrafen. Die Nationalsozialisten verschärften die Verfolgung - schon ein Kuss oder ein begehrlicher Blick reichte aus, um als Schwuler im Gefängnis zu landen. Bei Fällen "schwerer Unzucht" drohte sogar Zuchthaus mit bis zu zehn Jahren.
Die Bundesrepublik hielt an der NS-Fassung des Gesetzestextes weitgehend unverändert fest, während die DDR zur alten Fassung zurückkehrte. Mit großem Eifer und mit Hilfe der "Rosa Listen" der Nazis wurden in Westdeutschland rund 100.000 Verfahren gegen Homosexuelle eingeleitet und exzessive Freiheitsstrafen ausgesprochen.
DDR-Recht setzt sich durch
Der frühere Bundesanwalt Bruns ist sich sicher: "Ohne Wiedervereinigung wäre es nicht zur Abschaffung von Paragraf 175 gekommen." Der vermeintlich so rückständige Osten setzte bei den sogenannten Runden Tischen durch, dass das bundesrepublikanische Recht ausgerechnet beim Paragrafen 175 und beim Schwangerschaftsabbruch nicht zu gesamtdeutschem Recht wurde.
Bruns erinnert sich: "Die westdeutsche Gesellschaft war längst so weit, aber CDU und CSU waren es nicht". Während in Westdeutschland in den 1980er-Jahren zur besten Sendezeit im Fernsehen darüber diskutiert wurde, wie Schwule denn leben, sei dies in Nachbarländern wie Frankreich oder den Niederlanden schon längst Normalität gewesen. "Homosexualität passt vielen konservativen Kräften in Deutschland nicht ins Weltbild", sagt Bruns. "Viele fürchteten, die Homosexualität könne sich wie ein Flächenbrand ausbreiten."
Angst, entdeckt zu werden
Der lange Weg, den Homosexuelle in Deutschland bis zur Gleichstellung gehen mussten, zeigt sich am Beispiel von Manfred Bruns. 1934 in Linz am Rhein geboren und in einem erzkatholischen Zuhause aufgewachsen, unterdrückt der Jurist jahrzehntelang alle Anzeichen, dass er homosexuell sein könnte, heiratet und wird Vater von drei Kindern. Beruflich macht er eine steile Karriere, wird Bundesanwalt am Bundesgerichtshof in Karlsruhe.
"Ich habe das natürlich zunächst verheimlicht, auch aus Angst, dass ich meine bürgerliche Existenz und meine Familie verliere", erinnert er sich, "doch dann kam irgendwann der Moment, wo ich es nicht mehr unterdrücken konnte".
Als Homosexualität 1983 kurzzeitig zum politischen Top-Thema avancierte, entschied sich Bruns für ein baldiges Coming-Out. Kanzler Helmut Kohl hatte gerade seine neue Regierung mit der Bundestagswahl bestätigen lassen, als der damalige Vier-Sterne-General Günter Kießling mit dem (damaligen) Vorwurf konfrontiert wurde, er sei homosexuell. Die sogenannte Kießling-Affäre führte 1984 zur vorzeitigen Entlassung des damaligen stellvertretenden NATO-Oberbefehlshaber Europas.
Medien stürzen sich auf Tabuthema
Für Bruns, der sich zuvor schon seiner Frau anvertraut hatte, war dies der Zeitpunkt, auch beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe reinen Tisch zu machen. Sein Vorgesetzter, Generalbundesanwalt Kurt Rebmann, zeigt keinerlei Verständnis. "Der Mann war ja wahnsinnig konservativ und konnte damit nicht umgehen. Rebmann hat mich in einen anderen Senat versetzt."
Die Argumentation: Bruns, der beim dritten Strafsenat auch mit Spionage zu tun hatte, sei mit seinem "abweichenden Sexualverhalten" ein Sicherheitsrisiko. "Wir haben dann ein paar Jahre lang überhaupt nicht mehr miteinander gesprochen", erinnert sich der frühere Bundesanwalt heute.
Ein Jahr später erfährt ganz Deutschland, dass Manfred Bruns homosexuell ist. Der Bundesanwalt ist bei der TV-Talkshow "Drei nach Neun" eingeladen, es geht um das Thema Homosexualität. "Und dann fragt mich die Moderatorin Lea Rosh vor laufender Kamera, obwohl vereinbart war, dass nicht über meinen privaten Hintergrund gesprochen wird, wie denn das bei mir wäre. Ich hätte ja auch mit meiner Frau besondere Absprachen." Die Bild-Zeitung legte nach und titelte: "Bundesanwalt Bruns bekennt: Ich bin schwul!" Bruns‘ öffentliches Coming Out stärkt und prägt die politische Schwulen- und Lesbenbewegung in Deutschland.
"Schwule Minister, das ist doch toll"
Jurist Bruns entdeckt damals sein Lebensthema, beginnt, sich für die Rechte und die Gleichstellung der "175er" (wie sie damals genannt wurden) einzusetzen, und wird Sprecher des Lesben- und Schwulenverbandes in Deutschland (LSVD). 1994 zeichnet ihn der damalige Bundespräsident Roman Herzog für sein Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz aus.
Noch heute arbeitet Manfred Bruns, der seit 26 Jahren glücklich mit seinem Partner zusammenlebt, beim LSVD als juristischer Ratgeber. Vor allem lesbische Paare rufen ihn an. "Wenn zwei Frauen ein Kind bekommen, wird nur die leibliche Mutter rechtlicher Elternteil des Kindes, die Co-Mutter aber nicht, sie muss eine Stiefkindadoption machen", erklärt Bruns.
Die Motivation für sein Engagement blieb gleich: "Ich musste etwas unternehmen, damit sich Lebensläufe wie meiner nicht wiederholen." Heute, endlich, ist Manfred Bruns am Ziel. Oder möglicherweise auch schon drüber hinaus. "1989 haben wir das erste Mal die Ehe für alle gefordert, 2017 haben wir das erreicht. Und heute ist es möglich, dass wir in Deutschland schwule Minister haben. Das ist doch toll."