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Schreiben in Zeiten von Krieg und Krisen

23. April 2022

Krieg und Zerstörung hinterlassen Risse, die Schriftsteller mit Worten zu füllen versuchen. Zum Welttag des Buches sprachen wir mit drei Autoren aus der Ukraine, aus Belarus und dem Irak.

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Bücher im Buchregal in Form eines Menschenkopfs
Der UNESCO-Welttag des Buches findet seit 1995 immer am 23. April stattBild: DesignIt/Zoonar/picture alliance

Er sei ein Odysseus-Typ, sagt er von sich selbst. Denn wie die Heldenfigur aus der griechischen Mythologie ist auch der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch viel unterwegs - und genau wie der antike Krieger sehnt er sich dann nach seiner Heimat. "Ich bin immer für jede Reise bereit, besonders wenn diese mit einer Lesung verbunden ist. Ich packe meine Sachen sehr leicht und schnell, aber ich komme immer zurück. Aber im Moment bleibe ich ganz bewusst hier", sagt er. Hier: Das ist sein Zuhause in Iwano-Frankiwsk. Seit Kriegsbeginn hat Juri Andruchowytsch die Ukraine nicht verlassen, denn er sagt: "Ich habe keine andere Option." 

Bekannt wurde der Ukrainer mit Romanen wie "Karpatenkarneval", "Die Lieblinge der Justiz" und "Moscoviada", die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Mehrfach wurde Juri Andruchowytsch ausgezeichnet, darunter mit der Goethe-Medaille, dem Hannah-Arendt-Preis und dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. In seinen zahlreichen Reden wurde Andruchowytsch  nie müde, über die pro-europäische Richtung seines Landes zu sprechen und an die EU zu appellieren, die Ukraine zu unterstützen.

"Ganz ungewollt sind wir zu Ihren Gewissensbissen geworden", sagte Juri Andruchowytsch in seiner Rede auf der Wiener Buchmesse 2014 nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland. Lange und laut habe er versucht, den Westen wachzurütteln, doch einige Länder wollten es nicht wahrhaben. "Ich will nicht von dem Westen sprechen, ich will es nicht verallgemeinern. Wir sehen zum Beispiel, dass Großbritannien ein ganz anderes Verhältnis zur Ukraine hat als Deutschland. Und natürlich verstehen uns die Länder, die selbst russische Aggression und Okkupation erfahren haben - wie die baltischen Staaten oder die Tschechische Republik - sehr gut", sagt Andruchowytsch. In Deutschland hingegen sei die prorussische Einstellung nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem untrennbaren Teil deutscher Identität geworden. Die Deutschen hegten eine große Verehrung und übertriebe Sympathie für alles, was russisch ist.

Andruchowytsch aktueller Roman "Radio Nacht" erscheint diesen Sommer auf Deutsch. Er freue sich auf die Lesereise, sagt er und hofft, dass sie stattfinden kann. Aber danach führe der Weg wieder zurück in die Heimat - die seit dem 24. Februar unter Russlands Angriffskrieg zu leiden hat.

Schreiben im Exil

Zurückkehren, das kann Volha Hapeyeva derzeit nicht. Sie verließ ihre Heimat Belarus 2019. Anfang August 2020 ließ sich Alexander Lukaschenko dort nach der umstrittenen Präsidentenwahl zum Sieger erklären - und verlor damit mehrheitlich das Vertrauen der Bevölkerung. Es folgten landesweite Massenproteste mit weiß-rot-weißen Flaggen, dann folgten Festnahmen, Folter und Einschüchterungen. Volha Hapeyeva entschied sich, im Ausland zu bleiben - die Schriftstellerin wurde PEN-Stipendiatin des Programms "Writers-in-Exile".

"Ich stand einmal auf der Treppe vom Palast der Republik in Minsk, und sofort kam ein Polizist auf mich zu. Ich las dort einfach ein Buch, aber er meinte, ich könne da nicht sitzen. Es sind diese Kleinigkeiten, die einem zeigen, dass die Stadt nicht mehr den normalen Bürgern gehört. Du kannst als Bewohner nichts machen, die Stadt gehört der Regierung", sagt Volha Hapeyeva. Je mehr sie darüber nachdenke, was Heimat wirklich sei, desto mehr verstehe sie das Konzept von Heimat als etwas Globales. "Oft denke ich daran, in die Berge oder Wälder zu gehen, wo ich nicht erklären muss, wer ich bin und was für einen Pass ich habe oder warum ich kein Visum besitze. Worte wie Exil, Flüchtling, Emigrant sind nur für Gemeinschaften, Länder, Staaten relevant. In der Natur bin ich frei, und die Versuchung ist groß, zu denken, dass dieser Planet meine Heimat ist und dass ich mich überall auf ihm zu Hause fühlen kann."

Volha Hapeyeva schaut durch eine halbgeöffnete Holztür nach draußen
Volha Hapeyeva träumt von einer Welt ohne BeschränkungenBild: Helmut Lunghammer

Auf Deutsch ist unter anderem Hapeyevas Lyrikband "Mutantengarten" erschienen. Einige ihrer Gedichte sind auch in der aktuellen PEN-Anthologie "Stimmen aus dem Exil: In der nie endenden bernsteinfarbenen Nacht" zu lesen. Darin verarbeitet sie auch die Ereignisse in der Ukraine. Seit 2017 übersetzt sie Texte für die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa), die sich jahrelang - vergebens - darum bemühte, den Konflikt in der Ostukraine zu regulieren. Auch private Briefe bekam sie dabei zu Gesicht, die sie in ihrem Gedichtband verarbeitete.

und hier bin ich in der gefängniszelle und schreibe einen brief

und hier bin ich im schützengraben versuche die handschrift zu lesen

schickt mir warme socken und ein schachspiel

euer sohn

2017

Künstler in zwei Welten

"Halb Vogel bin ich, halb Baum: Eine Hälfte will Wurzeln schlagen, die andere fliegen", schreibt Umar Abdul Nasser. Auch seine Texte sind in der aktuellen PEN-Anthologie zu lesen. Zwei Jahre versteckte sich der irakische Schriftsteller und Sänger vor dem sogenannten IS, bis ihm die Flucht gelang. Heute lebt er in Deutschland und ist - wie Volha Hapeyeva - PEN-Stipendiat. Die Erinnerung an die Heimat und die Ereignisse vor der Flucht sind noch lebendig. "Wenn ich an meine Kindheit zu Zeiten von Saddam Hussein denke, denke ich an Angst. Angst, etwas zu sagen, Angst, etwas zu machen, Angst, dass mein Vater gefangengenommen wird. Und später während der IS-Herrschaft haben wir jeden Tag mit dem Tod gelebt. Jeden Augenblick können die an der Haustür stehen. Sogar die wenigen freien privaten Räumen, wie das Innenleben in einer Wohnung, war nicht mehr vor der IS sicher", erinnert sich Umar Abdul Nasser.

Er flüchtete sich in die Welt der Gedanken und fand in der Literatur einen sicheren Hafen. Er schrieb Gedichte, um das Geschehen um ihn herum zu verarbeiten. Später flüchtete er nicht nur gedanklich vor dem Terror, sondern ganz real - zunächst nach Polen; heute lebt er in Deutschland. "Ich liebe die irakischen Menschen, ich liebe mein Land, aber zugleich sehe ich aus der Ferne die Probleme viel klarer", sagt er. "Das Leben im Exil hat mit die Augen geöffnet."

"Stell dir vor, du bist an meiner Stelle. Geboren mit meiner Hautfarbe, so alt wie ich jetzt, mit derselben Adresse. Stell dir vor, du bist in einem Land geboren, das du nicht ausgewählt hast, aufgewachsen zwischen Kriegen, an denen du nicht schuld bist. Dein Pass öffnet eher Gefängnistore, als dir Zugang zu anderen Ländern zu gewähren. Gefangen zwischen den Zeiten, gehst du von einem Krieg, den du dir nicht ausgesucht hast, zu einem anderen, den du ebenfalls nicht gewählt hast. Du gehst unentschlossen und weißt nicht, wie das alles begonnen hat und wie du weggehen sollst…", schreibt Umar Abdul Nasser in seinem Text "Flüchtling sein".

Schreiben, wenn in der Heimat Krieg und Zerstörung herrschen, ist für ihn die seelische Rettung und die Flucht in die Freiheit.

Exilschriftsteller Doğan Akhanlı

 

DW Mitarbeiterportrait | Rayna Breuer
Rayna Breuer Multimediajournalistin und Redakteurin