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Schriftsteller Martin Walser ist tot

28. Juli 2023

An ihm schieden sich die Geister: Mit dem streitbaren Martin Walser verliert die deutsche Literatur einen ihrer großen und produktivsten Nachkriegsautoren.

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Deutschland Schriftsteller Martin Walser im Alter von 96 Jahren gestorben
Martin Walser (1927-2023)Bild: Felix Kästle/dpa/picture alliance

Leben, das hieß für Martin Walser vor allem Schreiben. Bis zu seinem Tod blieb er sich treu - als ein fleißiger, produktiver und auch auf Anerkennung bedachter Romancier. Mit zahlreichen Romanen, vielen Erzählungen und Theaterstücken hinterlässt er ein riesiges schriftstellerisches Werk. Unvergessen bleibt auch seine Streitlust, mit der er von Zeit zu Zeit in gesellschaftliche Debatten eingriff.

Das Scheitern am Leben - das war Walsers immer wiederkehrendes Motiv. Seine Helden bleiben hinter den Anforderungen, die ihre Mitmenschen an sie stellen, zurück. Oder sie sind eigenen Ansprüchen nicht gewachsen, fechten innere Kämpfe aus. Das Muster findet sich in vielen Romanen von Martin Walser: Die äußere Handlung gerät zur Nebensache.

Der Schriftsteller reihte sich damit ein in die Phalanx bedeutender deutscher Nachkriegsliteraten - neben Heinrich Böll, Günter Grass und Siegfried Lenz. Das erlaubte auch Einblicke in seine stets ruhelose Autorenseele.

Deutschland Martin Walser
Bis ins hohe Alter produktiv: Martin Walser bei einer Lesung im Literaturhaus Stuttgart (November 2018) Bild: Ulf Mauder/dpa/picture alliance

Der Literat vom Bodensee

Martin Walser war der Literat vom Bodensee. Er kam aus einer katholischen Gastwirts- und Kohlenhändlerfamilie aus Wasserburg bei Lindau. Bald zog es ihn zurück in die Gefilde seiner Jugend. In der schwäbischen Provinz spielen viele seiner Geschichten.

Vordergründig kleinstädtisch und provinziell war die Welt seiner Romane - und damit repräsentativ für die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft. Seine Bücher führten den Lesern die Lebenslügen des deutschen Spießers vor Augen.

Zugleich spiegelte sich in der scheinbaren Idylle der Provinz ein ganzer Kosmos menschlicher Erfahrungen. Schreiben, das war für Martin Walser eine Form der Aneignung von Welt. "Ich schreibe", bekannte er einmal in einem Interview, "also bin ich!"

Deutschland Schriftsteller Martin Walser im Alter von 96 Jahren gestorben
Heimatverbunden: Walser bei einem Spaziergang am Ufer des BodenseesBild: Patrick Seeger/dpa/picture alliance

Der Meister der kleinen literarischen Form

Und Martin Walser schrieb nicht wenig, fast jedes Jahr ein Buch: Seinem Romanerstling "Ehen in Philippsburg" (1957), in dem er die Gesellschaft des westdeutschen Wirtschaftswunders genüsslich durch den Kakao zog, sollten viele Werke folgen.

Einen unverhofften Bestseller landete Walser mit der Novelle "Ein fliehendes Pferd" (1978), wie überhaupt er ein Meister der kurzen Form war.

Doch den alles überragenden Walser-Roman, der ihm wie Lenz' "Deutschstunde" oder Grass' "Blechtrommel" auch internationalen Ruhm beschert hätte, hat Martin Walser nicht geschrieben. Dafür verfasste er Romane wie "Halbzeit" (1960), "Jenseits der Liebe" (1976) oder "Seelenarbeit" (1979), deren Protagonisten - die Angestellten Zürn, Kristlein oder Horn - ihre inneren Kämpfe ausfochten - und dabei viel über das Westdeutschland der 60er und 70er-Jahre erzählten.

Vorweisen kann Walser aber auch einen Wiedervereinigungsroman "Die Verteidigung der Kindheit" (1991) und den autobiographisch geprägten Erinnerungsroman "Ein springender Brunnen" (1998), das wohl bedeutendste Buch seines Spätwerks. 2017 erschien dann Walsers, sein Leben resümierender Roman "Statt etwas oder Der letzte Rank".

Angreifbare Positionen

Kritiker waren Walser zuwider, vor allem solche, die sein Werk nicht schätzten. Die Speerspitze dieser Kritikerfront sah er in Deutschlands "Literaturpapst" Marcel Reich-Ranicki (1920-2013), dem einflussreichen Literaturchef der FAZ, der ihm zwar Fleiß, zugleich aber mangelnde Phantasie bescheinigte. Ihm und anderen wollte Walser es in seinem Roman "Tod eines Kritikers" (2002) heimzahlen. Das belustigte zwar den Literaturbetrieb, schlug jedoch auf Walser zurück wie ein Bumerang und trug ihm Antisemitismus-Vorwürfe ein.

Frankfurt Paulskirche Friedenspreisrede Martin Walser
Martin Walser bei seiner Friedenspreis-Rede am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter PaulskircheBild: Arne Dedert/dpa/picture-alliance

Angreifbar machte sich Martin Walser weniger durch seine Literatur, als durch seine politischen Reden. Zum Verhängnis wurde ihm 1998 seine Dankesrede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche. Immerzu hielte man den Deutschen ihre nationalsozialistische Vergangenheit vor, kritisierte er. Das helfe auf Dauer nicht, um diese grausame Zeit in kritischer Erinnerung zu behalten, sondern animiere die Menschen zum Wegschauen. Dadurch bestünde die Gefahr, dass Auschwitz zur simplen "Moralkeule" verkomme.

Preisträger Walser sprach von der "Monumentalisierung der Schande". Dem Schriftsteller schlug danach heftige Kritik entgegen - insbesondere von Ignatz Bubis, damals der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland. Der warf Walser "geistige Brandstiftung" vor. Nicht viel später legten die Kontrahenten ihren Streit bei.

Erste Anfänge als Journalist

Geboren wurde Martin Walser am 24. März 1927 in Wasserburg am Bodensee. Bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in dessen letzten Tagen er als blutjunger Soldat dabei war, begann er 1946 in Regensburg Literaturwissenschaft, Philosophie und Geschichte zu studieren.

Deutschland Schriftsteller Martin Walser im Alter von 96 Jahren gestorben 1968
Politisch engagiert: Martin Walser engagierte sich - wie hier in Frankfurt am Main - 1968 gegen die NotstandsgesetzgebungBild: Manfred Rehm/dpa/picture alliance

Noch während des Studiums arbeitete Walser als Reporter für den damals neu gegründeten Süddeutschen Rundfunk und verfasste Hörspiele. Seine Dissertation an der Universität Tübingen schrieb er über den Schriftsteller Franz Kafka.

Zu all den hohen Auszeichnungen und Preisen, die Walser im Laufe seines langen Schriftstellerlebens erhielt, gehören der renommierte Georg-Büchner-Preis (1981), der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1998) und der Internationale Friedrich-Nietzsche-Preis, den er für sein Lebenswerk bekam (2015).

Zweifelnde Anti-Helden

Im Juli 2022 übergab Walser seinen Vorlass, also seinen schriftlichen Nachlass zu Lebzeiten, an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach. Zwei Transporter füllten die persönlichen Schriften, Notizen und Briefe. Zu Walsers 100. Geburtstag im Jahr 2027 plant Marbach eine große Walser-Ausstellung.

Gewiss hätte sich Walser mehr Beachtung durch seine Kritiker gewünscht. Der Anerkennung seiner Leser, die ihm beachtliche Verkaufserfolge bescherten, konnte er jedoch gewiss sein. Menschen, die ihn lasen, erkannten sich und ihre Fragen in seinen Romanfiguren wieder, nicht selten als gebrochene Helden, als Figuren, die zweifeln. Für sie hat der Autor diese Erkenntnis hinterlassen. Am Freitag ist Walser im Alter von 96 Jahren gestorben.