"Auf Wiedersehen im Himmel"
25. Juni 2020März 2019: Als Christian Maly-Motta mit seinen Söhnen "Schindlers Liste" sieht, weiß er noch nicht, dass er bald Auschwitz aus einer anderen Perspektive betrachten wird. Nach dem Film blättert er mit den Kindern ein Fotoalbum durch. "Ich wollte ihnen zeigen, dass wir mit dem Konzentrationslager nicht nur als Deutsche, sondern auch als Familie verbunden sind", sagt er. Denn sein Urgroßvater wurde in Auschwitz ermordet.
Zwei Monate später kreuzen sich unsere Wege. Christian Maly-Motta möchte das Schicksal seines Urgroßvaters rekonstruieren. Die Spuren führen zur psychiatrischen Heilanstalt in Kobierzyn in der Nähe der südpolnischen Stadt Krakau.
Betteln um ein Stück Brot
23. Juni 1942. Das Mittagessen in der Heilanstalt in Kobierzyn ist besonders üppig. Die Patienten spüren, dass etwas passiert. Vielleicht hat der neue Verwaltungsdirektor Alex Kroll an diesem Tag in der Küche vorbeigeschaut. Er bestimmt die Essensrationen persönlich.
Seit der Besetzung Polens durch die Deutschen erhält die psychiatrischen Anstalt Lebensmittelzuteilungen. An Essen mangelt es also nicht. Trotzdem verlieren die Patienten an Gewicht, manche 15 Kilogramm pro Monat. Die Sterblichkeit steigt stark an, besonders im Herbst 1941. Bis zu zehn Todesanzeigen verschickt die psychiatrische Anstalt täglich. Das Personal erzählt, wie sich die Patienten mit vor Hunger angeschwollenen Bäuchen gegenseitig das Essen aus den Händen reißen; selbst in den letzten Augenblicken ihres Lebens betteln sie um ein Stück Brot.
"Aktion T4"
Alex Kroll, seit 1933 Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei NSDAP, wurde im Oktober 1940 Verwaltungsdirektor der psychiatrischen Heilanstalt in Kobierzyn. Er war damals 33 Jahre alt und hatte gute Beziehungen. Besonders zu Jost Walbaum, der in der Regierung des von Nazi-Deutschland besetzten Polen die Abteilung Gesundheitswesen leitete. Kroll übernahm die Leitung des Warschauer Büro dieses Amtes. Privat war er Walbaums Patient. Sie kannten sich aus Berlin.
Es war Walbaum, der Kroll die Stelle in Kobierzyn anbot und ihn - wie Kroll später aussagt - über die "Aktion T4" unterrichtete. Es ging um die Ermordung von Menschen mit Behinderungen, die im Dritten Reich als "lebensunwert" galten.
Nazi-Mathematik
1935. Mathematikaufgabe: Nach vorsichtigen Schätzungen leben in Deutschland 300.000 Geisteskranke, Epileptiker usw. in Anstaltspflege. Was kosten diese jährlich insgesamt bei einem Satz von 4 Reichsmark? Wie viel Ehestandsdarlehen zu je 1.000 Reichsmark könnten - unter Verzicht auf spätere Rückzahlung - von diesem Geld jährlich ausgezahlt werden?
(Adolf Dorner, Mathematik im Dienste der nationalpolitischen Erziehung, 1935)
"Achse der Hoffnung"
Alex Kroll kann stolz sein: Er leitet eine der modernsten und schönsten psychiatrischen Kliniken in Europa. Die Anlage ist so konzipiert, dass die Patienten bei ihrer Ankunft keine Angst verspüren.
Zum Krankenhaus führt eine "Achse der Hoffnung". Der Patient soll zuerst ein Kreuz sehen, das ihnen Hoffnung bringen soll; dann einen langen Weg mit einem Kreisverkehr um ein buntes Blumenbeet; danach ein wunderschönes Herrenhaus, in dem er mit Würde empfangen wird. Wie ein Mensch.
Lösung der Mathe-Aufgabe
Rechnung: 300.000 x 4 Reichsmark = 1.200.000 Reichsmark. So viel kostet die Pflege aller psychisch kranken Patienten täglich. Jährlich: 438.000.000 Reichsmark.
Antwort: Für diese Summe könnte man 438.000 Ehestandsdarlehen auszahlen.
Die Liquidierung wird vorbereitet
Kroll kennt sich mit Rechnungen aus. Er verwaltet effizient. Im September 1941 verlegt er 91 jüdische Patienten in eine Klinik unweit von Warschau. Dort werden sie ermordet.
Anfang Juni 1942. Unruhe auf der Frauenstation VI b. Krankenakten verschwinden. Die Patienten, so die offizielle Version, sollen in eine andere Anstalt gebracht werden. Kroll untersagt Besuche und Entlassungen. Neue Patienten aber dürfen bis zum Schluss aufgenommen werden.
Patient in Kobierzyn ist auch Mieczysław Gwoździowski. Der 6. Juni 1942 ist sein 59. Geburtstag. 1913 hat er Adele geheiratet. Sie haben zwei Töchter. Die Behandlung des an Syphilis erkrankten Ehemannes kostet Adele viel Geld.
Mitte Juni treffen deutsche Polizisten auf dem Gelände der Heilanstalt ein. Sie bewachen die Einfahrt. In drei Tagen sollen alle polnischen Ärzte versetzt werden. Sie dürfen die Stationen nicht mehr betreten.
Am Bahnhof von Kobierzyn werden acht Viehwaggons bereitgestellt. SS-Männer graben eine tiefe Grube auf dem Friedhof.
23. Juni 1942. Stand: 567 Patienten, darunter 30 in einer Nebenstelle ca. 30 Kilometer entfernt. Als Kroll Verwaltungsdirektor wurde, lebten in der Anstalt 1.050 Patienten. Jeden Monat kamen 50 Neue hinzu.
Die Patientin Maria Szames, die bei Kroll Dienstmädchen ist, flieht aus der Station VI b. Alle Angestellten sollen die Stationen bis 12 Uhr verlassen - außer dem diensthabenden Personal. Eine Namensliste aller Patienten ist fertig. Kroll schickt einen Pfleger, um die 30 Patienten von auswärts zu holen. Unter dem Schreiben prangt seine Unterschrift.
Gegen Mittag treffen SS-Truppen ein und umgeben die Heilanstalt. Auch Dr. Werner Beck, Direktor des Instituts für gerichtliche Medizin und Kriminalistik, ist vor Ort.
Die Liquidierung beginnt.
500 Patienten werden "verlegt"
Kroll eilt durch die Stationen, überwacht den Abtransport der Patienten. Mit dem Auto fährt er zur Station VI a, wo Mieczysław Gwoździowski Patient ist. Zusammen mit anderen Patienten steigt dieser auf einen LKW. Weiß Mieczysław, was los ist?
Vor drei Monaten besuchte ihn seine Tochter. Er erfuhr, dass er Großvater wird. Sie unterhalten sich ganz normal, er freute sich sehr. Die Tochter wird sich an ihn als charmanten, warmherzigen und eleganten Mann erinnern. Der Absolvent einer Handelsschule liebte Kunst und hatte eine gute Stelle in einer Bank.
Um 20 Uhr sitzen über 500 Patienten in den Viehwaggons im Bahnhof von Kobierzyn. Sie schauen verängstigt durch die Spalten zwischen den Brettern, mit denen die Waggons verkleidet sind, betteln um Wasser. Manche singen die polnische Nationalhymne: "Noch ist Polen nicht verloren, solange wir leben".
Dann setzt sich der Zug in Bewegung.
Spiegel, Medaillon, Tabakbeutel...
In der Heilanstalt verbleiben ca. 30 Patienten, die nicht transportfähig sind. Sie werden in ihren Betten durch Spritzen oder Schüsse getötet. Ihre leblosen Körper werden nachts auf den Friedhof gebracht, wo sie eine Gruppe von 25 Juden begraben soll. Kurz vor Mitternacht sind gedämpfte Schüsse zu hören. Eins, zwei, drei ... fünfundzwanzig. Auch diese Leichen werden in die tiefe Grube geworfen und mit Kalk bestreut.
140 Złoty, eine Uhr Cyma Prima, ein Spiegel, ein Medaillon, eine Ernährungskarte für Juden auf den Namen Belka Nesselrott, Dokumente von Symche Końskowolski, ein Tabakbeutel aus Leinen. Die Körper von 55 Menschen liegen unordentlich gestapelt. Patienten unten, Juden oben. Die Verwesung ist so fortgeschritten, dass man bei 32 Leichen nicht einmal das Geschlecht bestimmen kann. So viel erfährt man über die Opfer nach der Exhumierung im Jahre 1946.
Ein kleines Versäumnis
Neben Krolls Dienstmädchen Maria flieht noch eine weitere Patientin, Waleria Białońska. Sie hat Glück und überlebt. Maria dagegen wird nach drei Tagen gefunden. "Auf Wiedersehen im Himmel", sagt sie zur Krankenschwester Janina Sroka, kurz bevor sie auf den Friedhof geführt wurde. Dort soll Kroll sie eigenhändig erschossen haben. Beweise dafür gibt es nicht.
Die deutschen Besatzer versuchen, die verbrecherische Liquidierung der Insassen der Heilanstalt in Kobierzyn zu verbergen. Auf Nachfragen der Familien, was mit ihren Verwandten passiert ist, antworten sie, sie seien "verlegt" worden, schweigen oder schicken Bescheinigungen über angeblich natürliche Todesgründe. So ein Dokument erhält auch die Familie von Mieczysław Gwoździowski.
Vielleicht hätte man nie erfahren, was tatsächlich mit den Patienten von Kobierzyn passiert ist, hätte es nicht dieses "kleine Versäumnis" gegeben: Im Herbst 1942 findet eine Angestellte in Kobierzyn eine Rechnung der Bahn für einen Transport nach Auschwitz. Sie schickt sie nach Kulparkow, wo Kroll eine neue Stelle angetreten hat.
"Es ist schön, anderen zu helfen"
Zwanzig Jahre später behauptet Kroll bei Vernehmungen, er habe die Heilanstalt in Kobierzyn immer erhalten wollen. In Frankfurt am Main wird der "Euthanasieprozess" vorbereitet. Angeklagt ist der Psychiater Werner Heyde. Weitere Namen fallen, darunter Walbaum und Beck. Die Staatsanwaltschaft leitet Ermittlungen ein. Alex Kroll hat Angst, Kobierzyn könnte im Zuge des Euthanasieprozesses mit behandelt werden; es könnte sogar zu einem Extra-Prozess kommen, schreibt er im Dezember 1963 an Walbaum. Die Namen der Täter hat Heyde bisher nicht verraten, merkt Kroll an.
Der Ex-Chef der Heilanstalt in Kobierzyn ist sichtlich besorgt. Er möchte unbedingt wissen, was Walbaum aussagen will. Dann gibt er ihm ein paar Gedächtnisstützen: Er habe keinen der SS-Führer gekannt, auch Dr. Beck nicht. Während der Liquidierung habe er seine Wohnung nicht verlassen dürfen.
Als Kroll das schreibt, ist er Verwaltungsinspektor und Büroleiter im Bundesamt für Güterverkehr (BAG) in München. Seine NS-Vergangenheit wirft jedoch einen Schatten auf die neue berufliche Laufbahn. Bestimmungen für die Behandlung von NS-Beamten stehen einer Beförderung im Wege. Kroll ist mittlerweile in der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft aktiv.
Natürlich will der ehemalige Verwaltungsdirektor von Kobierzyn kein Aufsehen. Einfach nur ruhig auf die Pensionierung warten und sich sozial engagieren. Kroll ist Sozialrichter, sitzt für seine Gewerkschaft in verschiedenen Ausschüssen und Räten. "Erst neulich sagte mir ein alter Jude (…), er freue sich für Deutschland, dass es bei dieser materiellen Einstellung der Deutschen noch solche Menschen gäbe, die sich unter Aufopferung ihrer Freizeit für andere Menschen zur Verfügung stellen, um ihnen zu helfen. Aber so ist eben mein ganzes Leben verlaufen, im Dienste für andere. Und ich habe darin meine Befriedigung gefunden. Es ist schön, anderen zu helfen... ", schreibt er an Walbaum.
Kroll verstrickt sich in Widersprüchen
In Kobierzyn hatte Koll niemandem geholfen. Das belegen die Akten der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg.
1969 kommt es zu einem separaten Verfahren gegen den ehemaligen Verwaltungsdirektor der Heilanstalt in Kobierzyn. Dort präsentiert Kroll seine Version der Ereignisse. Er habe von Anfang März 1942 bis zur Auflösung der Anstalt einen Kurs in Sachsen absolviert. Aber er verliert sich in Details, macht widersprüchliche Angaben.
Kroll hatte früh erkannt, dass er ein Alibi brauchte. Da er kein Zeugnis für den Kurs hatte, besorgte er sich drei Jahre nach dem Krieg eine Bescheinigung. Es ist ein starker Beweis zu seinen Gunsten - obwohl die Ermittler ahnen, dass Kroll lügt. Zu seiner Vernehmung im Jahre 1962 macht ein Dortmunder Staatsanwalt einen Aktenvermerk: "Der Zeuge Kroll äußerte (…), dass er nun überlegen müsse, was man für Dr. Beck tun könne, um ihn aus der Sache herauszuholen. Während der Vernehmung hatte der Zeuge Kroll jedoch angegeben, dass ihm Dr. Beck unbekannt sei. Daraus ist für mich der Eindruck entstanden, dass Kroll mehr weiß, als er sagt."
Für sein Verbrechen in Kobierzyn wird Kroll nie Sühne leisten müssen. Im Juni 1971 stellt die Münchner Staatsanwaltschaft die Ermittlungen ein. Ab jetzt kann der Ex-Verwaltungsdirektor seinen Ruhestand genießen. Vier Jahre später zieht er nach Garmisch-Partenkirchen, wo er im Juni 1979 stirbt.
"Ein Zeichen"
Mai 2019, auf dem Gelände der Klinik in Kobierzyn: Hier steht heute ein Denkmal zur Erinnerung an die Opfer der Nazi-Euthanasie. Auch der Name Mieczysław Gwoździowski ist dort verewigt. "Wir müssen uns als Menschen schämen. Ich sage nicht als Polen oder Deutsche, sondern einfach als Menschen", so der Kliniksprecher Maciej Bóbr, wenn er über die Geschichte dieses Ortes und die "Aktion T4" erzählt.
Wir fragen nach Verwandten ermordeter Patienten. Vielleicht suchte jemand nach Informationen und kontaktierte das Krankenhaus?
Niemand. So viele Jahre sind vergangen.
Eine halbe Stunde nach unserem Treffen erhalten wir die Nachricht, dass gerade eine Email eingetroffen ist. Jemand fragt nach seinem Urgroßvater. "Es ist ein Zeichen", meint der Kliniksprecher. So lernen wir den deutschen Theaterautor Christian Maly-Motta kennen - Mieczysław Gwoździowskis Urenkel.
Dieser Text ist die gekürzte Übersetzung einer Reportage aus der Reihe "Schuld ohne Sühne" (dw.com/zbrodniabezkary), einem Projekt von DW Polnisch und der polnischen Internet-Portale "Interia" und "Wirtualna Polska"