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Keine Vergangenheitsbewältigung?

Sarah Mersch8. September 2015

Ein Gesetzentwurf, der Straffreiheit für korrupte Geschäftsleute vorsieht, sorgt in Tunesien für Ärger. Gegner werfen der Regierung vor, die Aufarbeitung der Diktatur zu unterwandern.

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Demonstranten in Tunesien (Foto: DW/S. Mersch)
Bild: DW/S. Mersch

"Wir vergeben nicht", rufen einige Dutzend Demonstranten vor dem Stadttheater von Tunis, eng eingekesselt von der Polizei. Seit vergangener Woche gehen fast jeden Tag in Tunesien Bürger auf die Straße. Die meisten Demonstrationen werden von der Polizei schnell mit Schlagstöcken und Tränengas aufgelöst. Seit zwei Monaten herrscht in Tunesien wegen der angespannten Sicherheitslage nach den Anschlägen auf ein Museum und ein Hotel im März und Juni Ausnahmezustand. Den nutzt die tunesische Regierung auch, um die Proteste gegen die Wirtschaftsamnestie zu unterbinden.

Das Motto der Demonstranten lautet "Vergeben wird nur vor Gericht". Gerichtsverfahren für korrupte Beamten und Geschäftsleute sowie Steuerflüchtlinge sieht der Gesetzentwurf, den Staatspräsident Beji Caid Essebsi eingebracht hat, aber nicht vor. Stattdessen sollen die Schuldigen bei einer Selbstanzeige straffrei ausgehen und die Akten geschlossen werden, wenn sie die unterschlagene Summe plus fünf Prozent pro Jahr der Unterschlagung zurückzahlen. Das soll Geld in die leeren Staatskassen spülen und Investitionen fördern, hofft der Präsident. "Es gibt viele Geschäftsleute, die in der Lage wären, am Aufschwung Tunesiens mitzuwirken. Aber sie haben Angst." Das "Gesetz zur wirtschaftlichen Aussöhnung" solle ihnen genug Rechtssicherheit bieten, wieder auf dem tunesischen Markt zu investieren.

Angst vor der Rückkehr der Diktatur

"Das Gesetz ist ein Schritt zurück zum alten mafiösen System" schimpft hingegen Chayma, eine junge Demonstrantin. Auch Ahmed Seddik, Abgeordneter der linken "Volksfront" hat sich unter die Demonstranten gemischt, um gegen "die Rückkehr der Korrupten der Diktatur" zu protestieren. Er warnt vor einer Rückkehr alter Strukturen und sieht die demokratischen Errungenschaften seit der Revolution in Gefahr. Das Gesetz stehe im klaren Widerspruch zur Aufarbeitung der Vergangenheit und zur Verfassung, kritisiert er. Auch der starke tunesische Gewerkschaftsbund hat sich gegen den Gesetzesentwurf in seiner jetzigen Form ausgesprochen. Doch die Regierungsparteien haben im Parlament eine komfortable Zweidrittel-Mehrheit, so dass ein Scheitern des Entwurfs sehr unwahrscheinlich ist.

Demonstranten in Tunesien (Foto: DW/S. Mersch)
Die Demonstranten sehen in dem Gesetzentwurf einen Schritt in die falsche RichtungBild: DW/S. Mersch

Laut der im Januar 2014 verabschiedeten tunesischen Verfassung ist eigentlich die Wahrheitskommission auch für die Aufarbeitung von Wirtschaftsverbrechen zuständig. Doch das erste Jahr ihres vierjährigen Mandats ist ohne nennenswerte Fortschritte vergangen. Zwar haben mehrere tausend Opfer ihre Fälle eingereicht, doch bis jetzt kam es weder zu den fürs Frühjahr angekündigten öffentlichen Anhörungen, noch wurden Fälle an die Justiz weitergereicht. Stattdessen brodelt es im Inneren der Kommission. Sechs der fünfzehn Mitglieder sind bereits zurückgetreten oder wurden entlassen. Grund sollen politische Auseinandersetzungen und Kritik am Führungsstil der Leiterin der Kommission, Sihem Ben Sedrine, sein.

Wirtschaftliche Dringlichkeit

Ben Sedrine fürchtet, dass mit dem neuen Gesetz der Kommission rund die Hälfte ihrer Fälle wieder entzogen werden. "Die Wahrheitskommission wird auf eine Klagemauer reduziert: Kommt vorbei, beklagt euch, und geht wieder nach Hause. Denn wir haben nicht mehr das Recht, die Fälle zu untersuchen und sie werden keinerlei Konsequenzen haben." Denn ohne eine unabhängige Untersuchung, so die Leiterin der Wahrheitskommission, wäre es nicht möglich, zu verstehen, wie die Geschäftsleute sich so einfach auf Kosten der Bevölkerung bereichern konnten. Dies sei jedoch notwendig, um zu verhindern, dass sich solche Vorfälle in Zukunft nicht wiederholen, argumentiert sie. Die Probleme der Wahrheitskommission dürften keine Ausrede sein, die Aufarbeitung der Diktatur zu beenden, argumentiert der linke Abgeordnete Seddik.

Polizisten drängen Demonstranten zurück (Foto: DW/S. Mersch)
Die Polizei geht gegen die Demonstranten vorBild: DW/S. Mersch

Auch die Verfassungsrechtlerin Salsabil Klibi steht dem Gesetzentwurf kritisch gegenüber. Dieser sieht keine unabhängige Justizkommission vor, um die Korruptionsfälle zu untersuchen, lediglich eine Gruppe von Vertretern verschiedener Ministerien. Klibi spricht sich jedoch mangels Alternative für eine Überarbeitung des Texts aus. Das Prinzip, die Wirtschaftsfragen von der gebeutelten Wahrheitskommission loszulösen und das Verfahren zu beschleunigen, sei notwendig. "Wir müssen leider zweckorientiert diskutieren, weil wir vorankommen müssen", sagt sie. "Auch wenn wir uns alle einig sind, dass wir genug haben von den Korrupten."

Demnächst soll das Gesetz im Parlament diskutiert werden. Unterdessen rufen seine Gegner für kommenden Samstag zu landesweiten Protesten gegen das Gesetzesvorhaben auf.