Gewalt in Nordsyrien
28. Februar 2020Warum fordert Erdogan den NATO-Beistand?
Als NATO-Mitglied kann sich die Türkei gemäß Artikel 5 auf das Beistandsversprechen der anderen NATO-Partner berufen. Ankara hat von dieser Option bereits Gebrauch gemacht. Die Regierung bat die NATO um Hilfe und berief sich auf Konsultationen gemäß Artikel 4 des Nato-Vertrags. Dieser sieht vor, dass die Parteien einander konsultieren, "wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist". Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg reagierte und stellte sich in einer Sondersitzung hinter die Türkei. Er verurteilte die Angriffe von Russland und Syrien auf die Provinz Idlib und forderte beide Parteien auf, sich an internationales Recht zu halten.
Wo verläuft die Konfliktlinie zwischen Ankara und Moskau?
Die Eskalation zwischen Russland und der Türkei in Nordsyrien schaukelt sich seit Monaten hoch. Die Interessen könnten unterschiedlicher nicht sein: Die Führung in Moskau unterstützt die syrischen Regierungstruppen, die massive Luftangriffe in der Region Idlib durchführen, um dort die letzte verbliebene Rebellenhochburg einzunehmen. Die Türkei hingegen ist mit dem Regime des Machthabers Baschar al-Assasd verfeindet und unterstützt oppositionelle Milizen. Der jüngste Luftangriff auf türkische Soldaten ist der Höhepunkt des Konfliktes. Der Russische Rat für Außenpolitik (RSMD) vergleicht die Lage mit dem Vorfall im Herbst 2015, als türkische Kampfjets einen russischen Bomber abgeschossen haben.
Wie reagiert Russland?
Moskau macht Ankara für die Eskalation verantwortlich. Laut russischem Verteidigungsministerium hätten sich die bei den syrischen Angriffen getöteten türkischen Militärs "in terroristischen Kampfeinheiten" befunden. Ankara habe sich nicht an die Vereinbarungen von Sotschi gehalten und nicht für eine klare Trennung zwischen gemäßigten Oppositionellen und "Terroristen" in Idlib gesorgt, so der Vorwurf. Die Fachzeitschrift "Russia in Global Affairs" verweist bei Facebook darauf, dass der türkische Präsident "die Einsätze maximal erhöht" habe. Erdogan dränge Moskau in die Ecke und teste dessen "Zuverlässigkeit als Verbündeter von Damaskus".
Ist eine weitere Eskalation wahrscheinlich?
Trotz Interessenkonflikt sind die Türkei und Russland auf wirtschaftlicher Ebene eng miteinander verflochten. Das wichtigste Projekt, die Gasleitung "Turkish Stream", ist bereits seit Mitte Januar in Betrieb. Auch militärisch gibt es enge Beziehungen: Sehr zum Ärger der NATO-Partner entschied sich die Türkei 2019, den Luftraum mit dem russischen Raketenabwehrsystem S-400 abzusichern. Außerdem sei die Türkei von Massentourismus aus Russland abhängig. 2015 reagierte Moskau mit Reiseverboten für seine Bürger und traf damit die türkische Reiseindustrie stark.
Ist eine diplomatische Lösung denkbar?
Für eine Verhandlungslösung stehen die Aussichten schlecht. Laut Experte Iwan Starodubzew vom Thinktank Russian International Affairs Council hat Moskau kein Interesse an einem baldigen Vierer-Gipfel in Istanbul mit Erdogan, Putin, Merkel und Macron. Die russische Führung setze auf Gewalt. Vor diesem Hintergrund würde Russland dann im Rahmen des "Istanbuler Quartetts" verhandeln, wenn "ein signifikanter Erfolg auf den Schlachtfeldern um Idlib" erzielt worden ist, so der Experte.
Ist eine neue Flüchtlingskrise zu erwarten?
Nach UN-Angaben sind seit Anfang Dezember mindestens 900.000 Menschen vor den Kämpfen geflohen. Die Flucht hunderttausender Menschen ist der Hauptgrund, warum die Türkei die Militäroffensive der syrischen Regierung verurteilt. Die Türkei hat bereits 3,6 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Sollte der Druck noch weiter steigen, könnte es zu einer Massenflucht in die Türkei kommen. Ankara befürchtet, dass mit den schutzbedürftigen Zivilisten auch islamistische Terroristen ins Land gelangen. "Bevor wir die Grenze öffnen, werden alle Risiken geprüft, damit sich keine Dschihadisten unter den Menschen befinden", heißt es aus dem türkischen Innenministerium.