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Türkische Kulturszene: Hoffen und Bangen

Ceyda Nurtsch
15. Juli 2017

Ein Jahr nach dem Putschversuch am 15. Juli 2016 herrscht noch immer Ausnahmezustand in der Türkei. 150.000 Menschen wurden per Dekret entlassen, mehr als 50.000 inhaftiert. Das wirkt sich auch auf die Kulturszene aus.

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Türkei Putschversuch
Bild: picture-alliance/abaca/E. Öztürk

Seit dem am 20. Juli 2016 verhängten Ausnahmezustand wurden in der Türkei tausende Menschen von ihrer Arbeit suspendiert oder inhaftiert. Die Regierung sieht in ihnen entweder Anhänger der Bewegung um Fethullah Gülen, den sie für den Putschversuch verantwortlich macht, oder Terroristen. Kritiker dagegen sprechen von einer Hexenjagd. Die repressive Atmosphäre beeinflusst auch die Kunst- und Kulturszene.

"In dieser Atmosphäre ist es sehr schwer, kreativ zu sein"

Gökçenur Çelebioğlu lebt in Istanbul. Der Dichter, 1971 geboren, hat bereits mehrere Gedichtbände und Übersetzungen herausgegeben und nimmt regelmäßig an internationalen Literaturfestivals teil. Der Ausnahmezustand habe große Auswirkungen auf alle Kunstschaffenden, erzählt er. "Wir beginnen jeden Tag mit den schlechten Nachrichten, die wir über die sozialen Medien und Internetportale lesen. In dieser Atmosphäre ist es sehr schwer, kreativ zu sein."

Gökçenur Çelebioğlu
Lebt und arbeitet in Istanbul: der Lyriker Gökçenur ÇelebioğluBild: Gökçenur Çelebioğlu

Dichter, erzählt er, ließe man im Gegensatz zu anderen Künstlern eher in Ruhe. "Die Machthaber haben zwar immer Lyrik für ihre eigene Propaganda benutzt. Gleichzeitig haben sie sie aber nie als besonders gefährlich betrachtet." Allerdings habe sich mit dem 15. Juli 2016, dem Tag des Putschversuchs, etwas Grundlegendes verändert. "Die türkische Lyrik der 40er Jahre oder während der drei Putsche von 1960, 1971, 1980 hat eine Praxis entwickelt, mit diesem Druck umzugehen. Heute suchen wir, mich eingeschlossen, wieder nach solchen Wegen. Wir kehren zu diesen Reflexen, dieser Art des Schreibens zurück."

Zensur am Städtischen Theater Istanbul

Çağlar Yiğitoğulları, Schauspieler
Çağlar Yiğitoğulları: "Demokratie taucht nur noch in den Geschichtsbüchern auf"Bild: Çağlar Yiğitoğulları

Der Schauspieler und Performancekünstler Çağlar Yiğitoğulları, geboren 1977, ist einer von denen, die dem Druck entflohen sind. Er lebt jetzt in Berlin. Dort fühle er sich, trotz allen Schwierigkeiten, wie neu geboren, sagt er. Yiğitoğulları war fest angestellt am Städtischen Theater Istanbul als das Budget des Theaters der AKP-Stadtverwaltung unterstellt wurde. Von da an bestimmte sie alles und zensierte nach Belieben. Drei Kollegen, mit denen er zusammengearbeitet hat, wurden suspendiert.

"Der Putschversuch und der stille eigentliche Putsch der Regierung Erdoğan hat zu irreparablen Schäden geführt. Demokratie ist heute ein Terminus, der höchstens noch in Geschichtsbüchern auftaucht", klagt er. Da sei es nicht schwer, sich vorzustellen, wie es um die Situation von Künstlern stehe. "Was die Regierung fördert, sind Unterhaltung und Unwahrheiten." In seinen Stücken, die er in Berlin und anderen deutschen Städten aufführt, verarbeitet Yiğitoğulları seine traumatischen Erfahrungen.

Filmemacher trifft die türkische Kulturpolitik besonders hart

Dass die Förderung von Kunst ein großes Problem ist, weiß auch Soner Sert. Der Filmemacher schreibt als Kunstkritiker für die Zeitung Gazete Duvar. "Im Moment ist es sehr schwer, künstlerisch tätig zu sein", berichtet Sert. "Regierungskritische Künstler bekommen seit den Gezi-Protesten im Sommer 2013 weniger finanzielle Unterstützung. Seit dem Putschversuch vor einem Jahr erhalten sie gar keine mehr." Besonders Filmemacher, die den Friedensappell an die türkische Regierung unterzeichnet haben, in dem sie ihr Vorgehen in den Kurdengebieten kritisieren, würden von einer Förderung von vornherein ausgeschlossen. "Vor dem 15. Juli war es schon nicht leicht, Filme zu produzieren. Jetzt ist es noch schwerer." Mit einer richtigen Kultur- und Kunstpolitik, so Sert, wäre das möglich. Die habe es jedoch in der Türkei noch nie gegeben. Und die wenigen Verbesserungen, die man in den letzten Jahren erreicht hätte, seien heute so gut wie verschwunden.

Kaum noch Hoffnung auf bessere Zeiten

Fast ein Jahr nach dem Putschversuch machte sich am 15. Juni der Chef der Oppositionspartei CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, zu Fuß von Ankara nach Istanbul auf. Seinem sogenannten "Marsch für Gerechtigkeit" folgten Zehntausende. Bedeutet dies die Wiedergeburt der Opposition und damit Hoffnung für das Land?

Hunderte Menschen marschieren über eine Straße
Türkische Opposition auf der Straße beim "Marsch für Gerechtigkeit" Bild: DW/B.Karakas

Da sind der Çelebioğlu, Yiğitoğulları und Sert skeptisch. Zwar könnten die Menschen durch den Marsch wieder Hoffnung bekommen und zueinander halten, sagt Letzterer, das Wichtige aber sei, dass man organisiert Widerstand leiste.

"Wenn die Türkei bei den Wahlen 2019 ein anderes Land sein möchte, muss sich die Opposition zusammenschließen", meint auch der Dichter Çelebioğlu. "Ich hätte erwartet, dass der Marsch ein konkretes Zeichen in diese Richtung ist." Auch habe er wenig Hoffnung, dass eine neue Regierung die derzeitige Verfassung demokratischer gestalten wird.

Auch Çağlar Yiğitoğulları glaubt nicht, dass dieser Marsch eine neue Epoche einleitet. Gruppen wie Kurden und Schwule, die den Protestmarsch unterstützen wollten, wurden ausgegrenzt. Derzeit hat er keine Hoffnung für seine Freunde, für die Künstler, für sein Land. Alle, die etwas verändern könnten seien im Gefängnis.