Serbien und die Schuldfrage
3. Mai 2014Es ist der 28. Juni 1914. Ein junger Mann sitzt in einem Café in Sarajevo, der Hauptstadt des von der Doppelmonarchie okkupierten Bosniens. Unter dem Mantel verbirgt er seine Pistole. Der junge Mann ist hierher gekommen, um ein Leben zu beenden: das des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand. Die Kolonne des Thronfolgers ist plötzlich da, und der junge Mann zögert keine Sekunde – mit zwei Schüssen tötet er Ferdinand und seine Ehefrau. Der Name des Attentäters ist Gavrilo Princip. Der 19-jährige serbische Student hatte die Waffe vom parastaatlichen Geheimbund "Schwarze Hand" bekommen, der ein Großserbien anstrebte – ganz anders als Princip selbst.
Als Mitglied der revolutionären Organisation "Junges Bosnien" stand Princip für einen großen, freien südslawischen Staat der Serben, Kroaten und Bosniaken. Er war kein Nationalist, wird jedoch heute in Serbien zum Nationalhelden verklärt. Anderswo wird er als Terrorist gesehen. "Was war das Ziel seiner Kugeln?", fragt der serbische Schriftsteller und Historiker Vladimir Pištalo in einem Artikel für die Deutsche Welle und antwortet dann selbst: "Ich denke, die Tatsache, dass Princip nicht mitbestimmen konnte, wer in seinem Land regiert." Pištalo bemerkt weiter: "Manche Leute schreiben über das Attentat in eigentümlicher Weise, als ob Ferdinand einfach eine Privatperson gewesen wäre." Für Princip sei der österreichische Erzherzog schlichtweg ein Tyrann gewesen. Nach dem Attentat stellte Wien der serbischen Regierung ein unannehmbares Ultimatum. Nur 37 Tage später herrschte der bis zu diesem Zeitpunkt größte Krieg der Geschichte.
"Überarbeitung der Geschichte"
Wer war schuld? Dies scheint in Serbien nach wie vor die wichtigste Frage, nun, da sich der hundertste Jahrestag des Großen Krieges nähert. Die Schulddebatte überschwemmt die serbischen Medien förmlich, der Kampf um die Deutungshoheit erreicht seinen Höhepunkt. Waren die "kriegsdurstigen Germanen", also Deutsche und Österreicher, für den Kriegsausbruch verantwortlich, wie die offizielle Version in Serbien lautet? Oder war ganz Europa am Anfang des letzten Jahrhunderts ein riesiges Pulverfass, das nur auf einen Funken wartete? Und dass dieser Funke aus der Hand eines Serben kam – spricht das vielleicht für die Mitschuld Serbiens, wie einige westliche Historiker meinen?
Keinesfalls, steht schlicht und einfach in den serbischen Lehrbüchern. "Deutschland war nach der Vereinigung [der bis dahin souveränen Einzelstaaten und Königreiche zum Deutschen Reich, Anm. der Redaktion] 1870/71 wirtschaftlich und politisch gestärkt. Die militaristische Armeeführung in Berlin, vom großen Kapital unterstützt, forderte eine Verschiebung der Einflusssphären und des Kolonialreichtums", so die Wahrheit des serbischen Bildungssystems. Die Zentralmächte warteten nur auf die passende Ausrede, um die eigene Öffentlichkeit zu mobilisieren, heißt es in der entsprechenden Schulbuchlektion weiter. Besonders gerne wird an die Diffamierung Serbiens durch die Propaganda der Donaumonarchie erinnert. Damals hieß es: "Serbien muss sterbien".
Zu Wort meldete sich kürzlich kein Geringerer als der serbische Präsident Tomislav Nikolić. Es gebe Versuche, Serbien ohne Grund zum Schuldigen zu erklären und dafür verantwortlich zu machen, in der Geschichte wiederholt Unglücke von internationalem Ausmaß hervorgerufen zu haben, so Nikolić in der Belgrader Zeitung "Politika". Ein Intellektuellenzirkel um den weltbekannten Filmregisseur Emir Kusturica will den "gesetzeswidrigen" Prozess gegen Princip, der ihm gleich nach dem Attentat gemacht wurde, heute, einhundert Jahre später, annullieren lassen. Zum Jahrestag des Kriegsbeginns wird Princip zum ersten Mal mit einem Denkmal geehrt werden – auf dem Belgrader Kalemegdan, der früheren Festung und heutigen Parkanlage oberhalb der Mündung der Save in die Donau.
Der Historiker Christopher Clark von der Universität Cambridge wird in Belgrad als "Manipulierer der Geschichte" beschimpft. Die Ursache für diese Wut auf Clark ist seine These, das Attentat von Sarajevo sei nicht bloß ein Vorwand gewesen, sondern ein Glied in der Kriegsursachenkette. "Das Attentat hat die Krise ausgelöst, dann sind aber verschiedene geopolitische Interessen ins Spiel gekommen", sagte Clark kürzlich der DW. Der damalige britische Außenminister Edward Grey habe dies eindeutig formuliert: "Es kann nicht sein, dass wir in den Krieg eingreifen, um Serbiens Rechnungen zu begleichen!" Für Grey sei dies damals wie eine groteske Idee erschienen, so Clark. "Die Großmächte haben das Risiko und den eventuellen Gewinn durchkalkuliert - und am Ende sich alle für den Krieg entschieden." Für Serbien bedeutete dies, nach zwei Balkankriegen, die dritte Mobilmachung in drei Jahren.
Tragische Sieger
"Der Held von 1914" lautet der Titel eines neuen serbischen Dokumentarspielfilmes von Autor und Journalist Filip Švarm. Darin geht es nicht um Gavrilo Princip oder die führenden Politiker und Offiziere dieser Zeit – "der Held" sind die serbischen Bauern, die vier Fünftel der Armee ausmachten. Der Film sei ein Versuch, so Švarm, die Rolle des "kleinen Mannes" zu beleuchten, des Bauern, der im Schnitt 27 Jahre alt ist und schon drei Kinder hat und der seine Familie und Ernte hinterlässt, um für die Freiheit des Landes zu kämpfen. In Serbien ging es nicht um den Krieg für Kolonien oder die Verteilung von Reichtum und Macht. Der serbische Bauer hatte bessere Gründe zu kämpfen. Er sah seine Familie, sein Gut und seine Lebensweise bedroht", sagt Švarm im DW-Interview.
Der Triumph der Entente 1918 war für Serbien ein Pyrrhussieg. Etwa ein Viertel der 4,5 Millionen Einwohner erlebte das Kriegsende nicht. Die meisten Soldaten waren im Kampf gestorben, rund 400.000 weitere einer Typhusepidemie, der Kälte oder Hungersnöten zum Opfer gefallen, viele davon auf dem Rückzugsmarsch zur Adria. Die deutschen, bulgarischen und österreichisch-ungarischen Besatzer hatten schätzungsweise 60.000 serbische Zivilisten exekutiert. Nicht zuletzt deswegen sei es "unangemessen", Serbien als Schuldigen zu bezeichnen, mahnt Švarm. "Serbien war ein Kriegsopfer, ein Testfeld für das Kräftemessen der Großmächte."
Das Gefühl, das ewige Opfer zu sein, besteht bis heute. Die serbische Öffentlichkeit sieht "germanischen Serbenhass" als eine Konstante, die sich erneut im Zweiten Weltkrieg und im jugoslawischen Bürgerkrieg gezeigt habe. Diese Einschätzung illustrierte jüngst das Magazin "Vreme", indem sie ein bisher unbekanntes Foto veröffentlichte. Es zeigt Adolf Hitler, der an seinem 52. Geburtstag im April 1941 ein Geschenk betrachtet. Es ist eine Gedenktafel, die die Wehrmacht in Sarajevo erbeutet hatte. Auf der Marmorplatte ist in kyrillischer Schrift zu lesen: "An diesem historischen Platz hat Gavrilo Princip die Freiheit verkündet".