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PolitikEuropa

Serbien: Zeitenwende durch Putins Krieg?

Thomas Brey
2. Mai 2022

Seit Russlands Angriff auf die Ukraine ändert sich auch in Belgrad der Ton gegenüber Moskau. Serbien könnte vor einer prinzipiellen Neuorientierung stehen.

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Präsident Vucic inspiziert am 3. Januar 2022 die Panzerabwehrlenkwaffe Kornet, die er von Russland erhalten hat.
Gerüstet für alle Fälle: Präsident Vucic inspiziert eine Panzerabwehrlenkwaffe der serbischen Armee Bild: Darko Vojinovic/AP Photo/picture alliance

Serbien gilt traditionell als engster Verbündeter Russlands in Europa. Das kleine Land rühmt sich außerdem bester Beziehungen zu China, das mit Riesenkrediten viele Infrastrukturmaßnahmen wie den Ausbau von Schienen, Straßen und Kraftwerken ermöglicht hat. Dabei ist Serbien EU-Beitrittskandidat. Diese im Westen "Zwei-Stühle-Politik" genannte uneindeutige und auf mehrere Allianzen setzende Politik des Westbalkanlandes hat eine lange Tradition.

Schon der einstige Präsident und heutige Oppositionspolitiker Boris Tadic verfolgte eine Politik, die er als "Vier-Säulen-Außenpolitik" bezeichnete: Neben Russland, China und der EU setzt Serbien unter seiner Führung (2004-2012) auf die USA als vierten Partner. Diese oft von Brüssel und Berlin als "Schaukelpolitik" kritisierte Maxime kommt jetzt möglicherweise an ihr Ende. In Anbetracht von Russlands Krieg in der Ukraine steht Serbien vor einer Zeitenwende: Die Regierung in der Hautstadt Belgrad muss entscheiden, auf welcher Seite das Land in Zukunft stehen soll. 

"Messer in den Rücken der Serben"

Bisher zeichneten die serbischen Boulevardmedien, die als Megafon der Regierung gelten, ein klares Bild: Freunde waren Russland und China, Böses drohte aus Richtung Westen. Doch in der vergangenen Woche legten genau diese Medien eine überraschende Kehrtwende hin.

Rotes T-Shirt mit einem aufgedruckten Foto von Russlands Präsident Putin auf einem Markt in Berlgrad
In Serbiens Hauptstadt Belgrad verkaufen sich T-Shirts mit dem Konterfei Putins bisher gutBild: Darko Vojinovic/AP/dpa/picture alliance

"Weltpolitik auf unserem Rücken", titelte die Zeitung "Informer", der "Kurir" wusste: "Nacktes Interesse. Putin schützt die Interessen Russlands (...) und achtet dabei nicht auf die Position Serbiens". "Putin hat wegen seines Krieges die Serben und das Kosovo vergessen", hieß die Schlagzeile von "Blic" und der "Srpski Telegraf" wurde noch deutlicher: "Putin stößt das Messer in den Rücken der Serben".

Was war passiert? Russlands Präsident Wladimir Putin hatte seine Ansprüche auf die Krim und die Ostukraine damit begründet, dass der Westen die heutige Republik Kosovo aus dem serbischen Staatsverband gelöst und völkerrechtlich anerkannt hatte. Im Klartext: Ihr habt Kosovo von Serbien abgespalten, wir machen dasselbe mit der Krim und der Ostukraine. Das hieße im Umkehrschluss aber: Kosovo darf ebenso unabhängig sein wie die von Russland beanspruchten ukrainischen Gebiete.

Indizien für neue Positionierung

US-Senatoren berichteten nach ihrem Besuch bei Serbiens Präsidenten Aleksandar Vucic am 20.4.2022, dieser wolle die Politik seines Landes innerhalb von zwei Monaten neu justieren. Vucic seinerseits hat für kommenden Freitag (6.5.2022) eine Grundsatzrede an das serbische Volk angekündigt, in der er eine Bestandsaufnahme und neue Bewertung der internationalen Lage Serbiens vornehmen will. 

Serbiens Präsidentschaft Aleksandar Vucic hebt beide Hände bei seiner Siegesrede am Abend der Präsidentschaftswahl am 4.4.2022
Serbiens Präsident Aleksandar VucicBild: picture alliance / AA

In den vergangenen Wochen war der Druck auf Belgrad immer größer geworden. Aus Washington und Brüssel hieß es fast täglich, wenn Serbien zur EU gehören wolle, müsse es sich auch der außenpolitischen Unionslinie anschließen. Aus dem EU-Parlament kam zuletzt heftige Kritik an chinesischen Waffenlieferungen an Serbien. Belgrad brauche dieses Boden-Luft-Raketensystem doch gar nicht, weil es geografisch nur von NATO- und EU-Staaten umgeben sei. Oder habe das Land ganz andere Pläne, wurde gefragt. 

Das Luftabwehrsystem FK-3 aus chinesischer Produktion wird im serbischen Batajnica vorgestellt
Serbien hat ungeachtet westlicher Kritik ein chinesisches Luftabwehrsystem erworbenBild: Darko Vojinovic/AP/picture alliance

Schließlich hatte sich im März 2022 Innenminister Aleksandar Vulin zu Wort gemeldet, der sich als Sprachrohr von Präsident Vucic einen Namen gemacht hat: Serbien solle jede weitere Annäherung an die EU stoppen und politisch neutral werden, hatte er verlangt. Diese selbstbewusste Neutralität, die umgekehrt proportional zur eigenen wirtschaftlichen Potenz steht, nährt sich aus der jugoslawischen Geschichte mit Blick auf den sonst bei den Serben nicht immer so beliebten kommunistischen Staatsgründer Josip Broz Tito und seine Blockfreienbewegung.

Vucic unter Druck

Staatsoberhaupt Vucic sieht seine Stellung bedroht durch soziale Verwerfungen im Land, analysieren die wenigen noch verbliebenen regierungskritischen Medien in Serbien. Ungewöhnlich finden sie, dass er seinen Finanzminister Sinisa Mali öffentlich zurückpfiff, weil der die Einführung von Registrierkassen auf Bauernmärkten trotz tagelanger Demonstrationen der Händler erzwingen wollte.

Derweil muss die Bevölkerung mit massiven Preissteigerungen bei Lebensmitteln und Treibstoff fertig werden. Die serbischen Rentner, die von Vucic die Sicherung ihres sehr bescheidenen Lebensstandards erwarten, zog der Präsident durch einmalige staatliche Zuschüsse auf seine Seite.

Serbische Wirtschaft bedroht?

Ende vergangener Woche brachte die prominente Belgrader Zeitung "Novosti", stets an vorderster Front bei der Verteidigung von Vucic gegen den Westen mit seinen vermeintlich schändlichen Absichten, einen langen Grundsatzartikel zur Lage Serbiens. Der Druck des Westens "bedroht ernsthaft die serbische Wirtschaft", so das von der Zeitung entworfene Horrorszenario.

Serbiens Präsident Vucic heißt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Belgrad willkommen und weist ihr mit ausgestrecktem Arm den Weg.
EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen mit Präsident Vucic in Belgrad im September 2021Bild: Serbian Presidential Press Service/AP/picture alliance

Angeblich erwäge Brüssel den Stopp der Finanzhilfen sowie das Ende weiterer und den Rückbau schon getätigter Investitionen. Aber es könnte noch viel schlimmer kommen, analysierte das Blatt: Es könnte Schluss sein mit den seit 2009 möglichen vismumsfreien Reisen in die EU. Der Stopp der gewaltigen EU-Heranführungshilfen IPA könne ebenso bevorstehen wie die Streichung des Status als Beitrittskandidat.

Verschwörungstheorie

"Novosti" ordnet dieses Bedrohungsszenario in eine große Verschwörungstheorie ein: Der Westen agiere gemeinsam mit den Nachbarn in Bosnien und Herzegowina, Montenegro und Kroatien gegen Präsident Vucic. Und weiter: Der aktuelle Druck auf Serbien sei die Fortsetzung der Zerstörung Jugoslawiens und der Bombardierung durch die NATO während des Kosovo-Kriegs 1999 mit dem Ziel, "einen Teil unseres Territoriums den Albanern zu schenken".

Karte der Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien - Slowenien, Kratien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Kosovo und Nordmazedonien
Karte der Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien einschließlich Kosovo

Tatsächlich aber ist Serbien vollkommen vom Westen abhängig: Bis heute hat Brüssel dem 7-Millionen-Einwohnerland mit vier Milliarden Euro Entwicklungshilfe unter die Arme gegriffen. 24.000 serbische Firmen mit fast 900.000 Beschäftigten leben nach Belgrader Angaben vom Geschäft mit der EU. Serbische Unternehmen setzen zwei Drittel ihres Exports in EU-Länder ab. Vucic dürfte das Kappen dieser starken Verflechtungen nicht riskieren, um nicht selbst in Gefahr zu geraten, erwarten kritische einheimische Kommentatoren. Daher werde er Russland den Rücken kehren und sich eindeutig in Richtung Westen orientieren.

Thomas Brey war knapp vier Jahrzehnte Auslandskorrespondent der Deutschen Presse-Agentur dpa. Vor seiner Verrentung leitete er alle dpa-Büros auf dem Balkan.

Serbien und Putins Ukraine-Krieg