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"Transatlantic": Vom Nazi-Terror in die Freiheit

Scott Roxborough
6. April 2023

Die Serie von Anna Winger erzählt von der Rettung europäischer Intellektueller und Künstler wie Hannah Arendt oder Marc Chagall vor den Nazis. Eine wahre Geschichte, die an den Filmklassiker "Casablanca" erinnert.

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Drei Männer und zwei Frauen gemeinsam in einem Zimmer
Krisengespräch. Eine Szene aus der Serie "Transatlantic" Bild: Netflix/Photo: Anika Molnár

1940 wurde der US-amerikanische Journalist Varian Fry in die südfranzösische Stadt Marseille geschickt. Er sollte Europäern helfen, die vor den Nazis fliehen mussten. Im Auftrag des US-amerikanischen Emergency Rescue Committee (ERC) (aus dem später das International Rescue Commitee (IRC) entstand, eine internationale Hilfsorganisation, die Menschen unterstützt, die vor Krisen, Krieg, Verfolgung oder Naturkatastrophen fliehen müssen, Anm. d. Red.) und zusammen mit der schwerreichen Erbin Mary Jayne Gold, die ihn finanziell und logistisch unterstützte, brachten Fry und sein Team über 2000 Menschen in Sicherheit.

Darunter einige von Europas größten Künstlern und Intellektuellen, etwa die Philosophin Hannah Arendt oder die Maler Marc Chagall, Max Ernst und Marcel Duchamp - Flüchtende, die später die Gedankenwelt in den USA entscheidend prägen sollten.

Reicher Fundus an Quellen

"Es ist eine großartige Geschichte, die noch nie erzählt wurde", sagt die in Berlin lebende Drehbuchautorin und Produzentin Anna Winger, die die Geschichte von Fry und dem ErC-Komitee für den Streaminganbieter Netflix in die siebenteilige Serie "Transatlantic" umgesetzt hat. "Jeder, der das damals selbst miterlebt hat, war selbst künstlerisch oder schriftstellerisch tätig", so Winger. "Sie haben das in Memoiren, Theaterstücken, Fiktion, Kurzgeschichten und Romanen verarbeitet. Es gab also einen riesigen Fundus an Quellen."

Winger hat bereits die mit einem Emmy preisgekrönte Netflix-Serie "Unorthodox" geschrieben und produziert - die Geschichte einer Jüdin, die aus ihrem ultra-orthodoxen chassidischen Umfeld in Brooklyn, New York, ausbricht und nach Berlin flieht. Außerdem ist Winger für die Amazon-Spionageserie "Deutschland 83/86/89" verantwortlich, die aus Sicht eines unfreiwilligen ostdeutschen Spions erzählt wird.

Ein Mann mit Schirmmütze steht an einer Mauer
Lucas Englander spielt Albert HirschmanBild: Netflix/Photo: Anika Molnár

Von Fry und dem ERC erfuhr Winger von ihrem Vater, der als Professor an der Elite-Universität Harvard mit dem berühmten Wirtschaftswissenschaftler Albert Hirschman in Kontakt stand. Der deutsch-jüdische Flüchtling, der in der Netflix-Serie von dem österreichischen Newcomer Lucas Englander verkörpert wird, blieb 1940 in Marseille, um anderen bei der Flucht zu helfen.

Parallelen zur Flüchtlingskrise 2015 

Wingers Idee, eine Geschichte über Flüchtende zu erzählen, entstand aber später: als sie die sogenannte Flüchtlingskrise 2015 hautnah miterlebte. "Mein Büro war am Tempelhofer Flughafen in Berlin, und die Hangars waren erste Anlaufstelle für die Flüchtenden, die hauptsächlich aus Syrien kamen. Wir waren alle als Freiwillige im Einsatz", erinnert sie sich. "Meine Tochter, die damals 12, 13 Jahre alt war, sagte: 'Weißt du, das sind Menschen wie wir, mit dem Unterschied, dass Menschen wie wir Berlin damals verlassen mussten. Und nun kommen die Leute nach Berlin, um hier Schutz zu finden'."

2019, als Winger gerade an "Unorthodox" arbeitete, brachte die Schriftstellerin Julie Orringer "The Flight Portfolio" heraus, eine fiktionalisierte Darstellung der Heldentaten von Fry und dem ERC in Marseille. "Das war Schicksal", sagt Winger. "Also habe ich mir die Rechte an dem Buch gesichert, und so ist das Ganze ins Rollen gekommen."

Filmklassiker "Casablanca" als Inspiration

Anstatt als Dokudrama haben Anna Winger und ihr Co-Autor Daniel Hendler "Transatlantic" als fiktionalisierte romantische Abenteuergeschichte konzipiert, inspiriert von dem berühmten Hollywood-Klassiker "Casablanca".

"Ich habe ein bisschen was über die Entstehungsgeschichte von ‘Casablanca’ gelesen, es ist einer meiner Lieblingsfilme", sagt Winger. "Viele, die damals an dem Film mitgearbeitet haben, waren selbst gerade erst aus Deutschland emigriert. Und dann mussten sie sich plötzlich mit dem Zweiten Weltkrieg auseinandersetzen, den Nachrichten von Zuhause - und das ganze Trauma und die Tragik in Humor und Romantik kanalisieren."

Die Machart der Melodramen und der Screwball-Komödien (schnelle Dialoge, respektloser Humor und exzentrische Charaktere zeichnen sie aus, Anmerkung d. Red.) der 1930er und 40er-Jahre prägen auch das Tempo und Storytelling von "Transatlantic", das nicht nur von Fry und dem ERC, sondern auch von einer - fiktionalen - Romanze zwischen Hirschman und Mary Jayne Gold erzählt. Letztere wird von Gillian Jacobs gespielt. In der Netflix-Serie ist sie auch noch eine Spionin des britischen Geheimdienstes, die dabei hilft, englische Soldaten aus Nazi-Kriegsgefangenenlagern herauszuschmuggeln.

Männer sitzen an einem Tisch, sie werden gefilmt
Kurz nach Beginn der Dreharbeiten zu "Transatalantic" überfällt Russland die Ukraine - und wieder müssen in Europa viele Menschen flüchten Bild: Netflix/Photo: Anika Molnár

Einige der stärksten Szenen der Serie haben Komödiencharakter. Der deutsche Schauspieler Alexander Fehling zeigt eine furios überkandidelte Performance als extravaganter Max Ernst. Jonas Nay (Hauptdarsteller von "Deutschland ‘83") absolviert einen Gastauftritt als deutscher Satiriker Walter Mehring und liefert eine atemberaubende musikalische Cabaret-Nummer ab.

"Ich glaube, in gewisser Weise zeigt das die Natur des Menschen in schwierigen Zeiten", sagt Lucas Englander. "Das ist auch der Grund, warum die Menschen in der Ukraine so tapfer bei der Sache bleiben und nicht einfach sagen: 'Das war’s, wie geben auf.' Sie sagen: "Ich mache weiter und ich bleibe, und du kannst mir den Humor nicht nehmen, er ist stärker als du'."

Eine "Flüchtlings-positive" Geschichte 

Die Serie zeigt die dramatischen Rettungsversuche, Flüchtende über die Pyrenäen nach Spanien oder in Cargo-Schiffen, versteckt zwischen dem Frachtgut, nach Amerika zu bringen; gleichzeitig untersucht "Transatlantic" den Beginn einer breiteren Revolution, die sich gerade formiert.

Filmstill mit fünf Männern in Uniform aus "Transatalantic"
Inspiriert wurde "Transatlantic" vom Filmklassiker CasablancaBild: Netflix/Photo: Anika Molnár

"Als Frankreich gegen die Nazis kämpfte, holte man sich Hilfe aus den Kolonien in Afrika. Als Paris dann fiel, waren diese Menschen immer noch im Land", so Winger. "Damals entstand die Résistance (die französische Widerstandsbewegung gegen die Nazis, Anmerkung d. Red.), und viele Afrikaner gehörten dazu. Und weil alles miteinander verbunden ist, war die Réstistance auch der Anfang vom Ende des Kolonialsystems. Denn damals kamen Menschen zusammen, die sonst nie aufeinander getroffen wären. Das prägte neue Vorstellungen von Freiheit."

Diese unterschiedlichen Geschichten der Suche nach Freiheit - Juden, die sich vom Terror der Nazis befreien wollen, afrikanische Revolutionäre, die versuchen, Frankreich von den Nazis zu befreien und am Ende auch Afrika von Frankreich oder auch Mary Jayne Gold, die versucht, sich von ihrer patriarchalen amerikanischen Familie zu lösen - sind die verbindende Kraft von "Transatlantic". 

"Das ist eine Flüchtlings-positive Geschichte, ganz bewusst. Das ist nicht polemisch gemeint, ist es aber trotzdem", sagt Winger. "In dieser Geschichte geht es um all die Flüchtenden, die nach Amerika wollen, um frei zu sein. Doch gleichzeitig finden Amerikaner ihre persönliche Freiheit im kriegsversehrten Europa. Jeder bewegt sich also Richtung Freiheit, und sie begegnen sich an diesem Knotenpunkt."

Die Serie "Transatlantic" startete am 7. April 2023 auf Netflix.

Adaption aus dem Englischen: Julia Hitz.