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PolitikTunesien

Setzt Tunesien Migranten in der Wüste aus?

26. Mai 2024

Hilfsorganisationen sagen, Tunesien führe kollektive "Abschiebungen" von Migranten in die Wüste durch, bei denen die Menschen an der libyschen Grenze zurückgelassen werden. Mamadou aus dem Tschad hat diese Reise erlebt.

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Mamadou, ein junger Mann aus dem Tschad, steht an einem Olivenbaum, hinter ihm Wüste und Müll
Mamadou wartet auf seine nächste Chance, nach Europa zu kommenBild: Khaled Nasraoui & Tarak Guizani

Die Angst ist da, Tag und Nacht, sagt Mamadou aus dem Tschad. Seinen vollen Namen nennen wir nicht, weil er Angst vor Repressalien hat. Er erzählt, was ihm Anfang Mai passiert ist, nachdem er die italienische Insel Lampedusa mit Hilfe von Menschenhändlern nicht erreichen konnte.

"Die Beamten der tunesischen Küstenwache nahmen uns unsere Handys und unser Geld ab, dann fuhren sie uns zur libyschen Grenze, wo sie uns zurück ließen", berichtet er der DW aus seinem Versteck: einem Olivenhain in der Nähe der tunesischen Hafenstadt Sfax. Mamadou erzählt, er sei etwa 240 Kilometer durch die Wüste gelaufen, um dorthin zu gelangen.

Ein Olivenhain als Schutzraum für Migranten

Der Olivenhain ist zu einem berüchtigten Unterschlupf für rund 80.000 Migranten aus Subsahara-Staaten geworden. Sie warten auf eine Chance, das Mittelmeer überqueren zu können, um nach Europa zu gelangen.

Afrikanische Migranten an einer improvisierten Feuerstelle in der Wüste neben einer einfachen Zeltplane
"Wüstenentsorgung" - wie die Praxis der behördlichen Verschleppung auch genannt wirdBild: Yassine Gaidi/Anadolu/picture alliance

Lauren Seibert von Human Rights Watch forscht zu Rechten von Flüchtlingen und Migranten. Was Mamadou und andere erlebt haben,  sagte sie, sei "eine unrechtmäßige kollektive Ausweisung, oder wie die Leute sagen, eine 'Wüstenentsorgung'". Algerien, Libyen und Mauretanien praktizierten "seit vielen Jahren diese kollektiven Ausweisungen", aber in Tunesien sei dies ein neueres Phänomen, das seit 2023 systematisch zu werden scheine.

Wie Seibert sieht es auch ein tunesischer Migrationsexperte, der hier anonym bleiben will: "In den vergangenen Jahren gab es nur eine Handvoll Fälle. Vor allem dann, wenn Schmugglerboote aus Libyen von tunesischen Behörden abgefangen wurden. Jetzt scheinen die Abschiebungen systematischer zu sein. Zum Teil werden sie aus den Städten Sfax und Zarzis weggebracht."

Anfang dieses Monats veröffentlichte Lighthouse Reports, eine investigative Nachrichtenorganisation, die mit mehreren internationalen Medien zusammen arbeitet, einen Bericht über die Zunahme der sogenannten "Wüstenhalden". Ein Jahr lang untersuchte die Organisation dieses Vorgehen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die tunesische Nationalgarde im Zentrum dieser Operationen stehe, wobei ein Großteil der Finanzmittel aus europäischen Ländern stamme.

Eine Gruppe Migranten hinter einem Stacheldrahtzaun
Diese Migranten an der Grenze zu Libyen warten auf Essen von einer Hilfsorganisation (Archivbild vom Juli 2023)Bild: Yousef Murad/AP/picture alliance

Anreize zur Eindämmung der Migration in die EU

Die EU hat im vergangenen Jahr mit Ägypten, Marokko, Mauretanien und Tunesien sogenannte Migrationspartnerschaften abgeschlossen. Die europäischen Gelder sind für die Eindämmung der Migration nach Europa vorgesehen. Für viele Beobachter sind die jüngsten Entwicklungen in der tunesischen Migrationspolitik besonders besorgniserregend. Schließlich ist Tunesien zu einem beliebten Ausgangspunkt für Migranten aus ganz Afrika geworden, die nach Europa wollen.

Das Land hatte 2015 die Visumspflicht abgeschafft, und es war allgemein bekannt, dass das Land billige Arbeitskräfte benötigte. Für die Menschen, die Geld für die Überfahrt über das Mittelmeer aufbringen mussten, wurde es zu einem attraktiven Zwischenstopp. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Hafenstadt Sfax, die weniger als 150 Kilometer von Lampedusa entfernt liegt, zu einem wichtigen Zentrum des Menschenhandels entwickelt. Und die tunesischen Behörden haben das mehr oder weniger geduldet.

Doch im Februar 2023 leitete Tunesiens Präsident Kais Saied ein neues, hartes Vorgehen gegen Migranten ein. Er behauptete, Migranten, die aus Ländern südlich der Sahara in das Land einreisten, würden die demografische Struktur Tunesiens bewusst verändern. Tunesien drohe, sich in ein "afrikanisches" Land zu verwandeln, anstatt in ein "arabisch-muslimisches".

Es folgten landesweite Polizeiaktionen, die zum Teil von der tunesischen Bevölkerung unterstützt wurden und bei der viele Familien aus Subsahara schikaniert, aus ihren Häusern vertrieben und willkürlich festgenommen wurden. Nach internationalen Protesten und einigen kleineren lokalen Demonstrationen kam Saied nach Sfax, um die Lage zu beruhigen.

Ein Abkommen, das Menschenrechtsorganisationen kritisieren

Im Juli vergangenen Jahres bot die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, Tunesien dann das Partnerschaftspaket im Wert von mehr als einer Milliarde Euro an: 900 Millionen Euro plus 150 Millionen Euro Soforthilfe für den tunesischen Haushalt und weiteren 105 Millionen Euro für Grenzschutz und Schmuggelbekämpfung.

Tunesischer Präsident Kais Saied und Ursula von der Leyen schütteln sich die Hand
Handschlag für das Migrationsabkommen - EU-Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen und Tunesiens Präsident Kais SaiedBild: AFP

Obwohl Saied wiederholt betont hat, dass Tunesien weder ein "Zentrum noch eine Durchgangsstation für Subsahara-Afrikaner" sei, sagen Menschenrechtsaktivisten, dass die illegalen kollektiven Abschiebungen in die Höhe schnellten. "Die zunehmenden EU-Mittel für die Migrationskontrolle fördern diese Kollektivausweisungen, die gegen regionales und internationales Recht verstoßen", sagte die Human Rights Watch-Forscherin Lauren Seibert der DW.

Laut der Nachrichtenagentur AFP reagierte die EU nicht explizit auf die Anschuldigungen von Lighthouse Reports. Die Sprecherin der EU-Kommission, Ana Pisonero, erklärte allerdings, dass "die Situation in unseren Partnerländern manchmal schwierig ist... (aber sie) bleiben souveräne Staaten und haben weiterhin die Kontrolle über ihre nationalen Kräfte".

Für Seibert sind das leere Worte. "In der Tat gibt es einen klaren Zusammenhang zwischen der EU-Finanzierung und der Fortführung dieser Praktiken."

Tunesien: Systematische Abschiebungen

Tunesien hat im Mai 2023 erstmals rund 1200 Migranten an die Grenze zu Libyen verschleppt. "Dies löste eine humanitäre Krise aus, bei der mehrere Migranten, darunter auch Kinder, ums Leben kamen. Und es führte auch zu einer politischen Krise zwischen Libyen und Tunesien", so der Migrationsexperte, der anonym bleiben will.

Nach einem internationalen Aufschrei wurden die groß angelegten Abschiebungen im Juli gestoppt. Sie wurden aber dann im September wieder aufgenommen, nachdem die tunesischen Behörden erneut eine große Zahl von Menschen inhaftiert hatten.

"Seitdem geht ein Teil der Transporte zur algerischen Grenze, wo es zu großen Spannungen mit den algerischen Grenztruppen kommt. Ein anderer Teil wird an die libysche Grenze gebracht", so der Migrationsexperte. Obwohl dort derzeit keine humanitäre Krise bestehe, da die Migranten ziemlich schnell von den Libyern aufgegriffen würden, kämen sie hier in Haftzentren, wo sie der Gefahr von Missbrauch und Erpressung ausgesetzt seien.

Mitarbeit: Tarak Guizani, Tunesien

Adaption aus dem Englischen von Sabine Faber.

Jennifer Holleis
Jennifer Holleis Redakteurin und Analystin mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika.