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Sex, Leaks und die schwedische Justiz

Matthias von Hein18. August 2015

Der dritte von vier Anklagepunkten gegen WikiLeaks-Gründer Julian Assange ist verjährt. Der vierte verjährt erst 2020. Die Zweifel am Vorgehen der schwedischen Justiz wachsen - und an der Verhältnismäßigkeit der Mittel.

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WikiLeaks Gründer Assange bei Pressekonferenz in Ecuadors Botschaft in London (Foto: John Stillwell/Pool Photo via AP, File)
Bild: picture-alliance/AP Photo/J. Stillwell

Es heißt, das erste Opfer des Krieges sei die Wahrheit. Julian Assange und die von ihm mitgegründete Enthüllungsplattform WikiLeaks haben einiges dazu beigetragen, unschöne Wahrheiten über die US-geführten Kriege in Irak und Afghanistan bekannt zu machen. Seit fünf Jahren aber ist Assange selbst in eine Art Krieg mit der schwedischen Justiz verwickelt. Auch hier scheint Wahrheit ein knappes Gut zu sein. Schwere Vorwürfe stehen im Raum: sexuelle Belästigung, Nötigung, Vergewaltigung. Am Anfang des Justizdramas stehen zwei Frauen. An einem Freitagnachmittag im August 2010 gehen sie gemeinsam zu einer Polizeiwache in Stockholm. Sie suchen Rat, wie sie einen gemeinsamen Sexpartner zu einem HIV-Test zwingen können. Als sie einige Stunden später die Wache verlassen, hat die Polizei ein Ermittlungsverfahren wegen Vergewaltigung und sexueller Belästigung eingeleitet. Nachzulesen ist das in der Liste der Fakten, die sowohl Assange als auch die schwedische Staatsanwaltschaft anerkennen.

Kampf um die Deutungshoheit

Seither tobt ein Kampf um die Deutungshoheit dessen, was die beiden Klägerinnen vorgebracht haben und wie justitiabel die Vorwürfe sind. Das schwedische Sexualstrafrecht ist außerordentlich weitgehend. Fest steht: Beide Frauen hatten einvernehmlich Sex mit Assange. Keine von beiden fühlte sich jemals von ihm bedroht. Der erst in weiteren fünf Jahren verjährende Vergewaltigungsvorwurf basiert auf der Aussage einer der beiden Frauen, im Laufe einer Liebesnacht habe Assange sie in halb-schlafendem Zustand noch einmal penetriert, ohne Kondom.

Es gibt noch ein paar Tatsachen, die es wert sind, ins Gedächtnis gerufen zu werden: Bis heute ist Julian Assange noch nicht einmal offiziell angeklagt, das Verfahren steckt im Stadium der Vorermittlung fest. Der europäische Haftbefehl gegen Assange dient formal lediglich der Überstellung zur Befragung zu den Vorwürfen.

Wikileaks Gründer Julian Assange Aufenthalt Botschaft Ecuador in London
17 Millionen Euro hat Großbritannien in die Bewachung von Assanges Asyl investiertBild: REUTERS

Staatsanwältin weist Klage ab

Eine weitere Tatsache: Diese Vorwürfe waren bereits von der Stockholmer Staatsanwältin Eva Finne als unbegründet abgewiesen worden. Dann aber greift eine Staatsanwältin aus Göteborg den Fall wieder auf. Marianne Ny erlässt auch den besagten internationalen Haftbefehl. Aber fünf Jahre lang weigert sich Staatsanwältin Ny, Assange irgendwo anders als in Schweden zu vernehmen. Eine Befragung per Video lehnt sie ebenso ab wie eine schriftliche Stellungnahme. Erst in diesem Frühjahr zeigte sie sich plötzlich zu einer Befragung in London bereit - vermutlich, weil die Anwälte von Assange das Verfahren vor den obersten schwedischen Gerichtshof gebracht haben. Hätte Ny nicht die Befragung in London angeboten, wäre sie möglicherweise unterlegen. Das vermutet Nikolaos Gazeas, Experte für internationales Strafrecht an der Universität Köln. Gazeas ergänzt im Interview mit der DW, die schwedischen Justizbehörden hätten in den vergangenen Jahren in anderen Fällen 44 mal Beschuldigte oder Zeugen im Ausland befragt. Deshalb fällt das Urteil des Juristen Gazeas eindeutig aus: "Es ist schlicht nicht nachvollziehbar, wie im Fall Assange seitens der schwedischen Behörden - insbesondere der Staatsanwältin Ny - agiert wird, um dem Vergewaltigungsvorwurf nachzugehen. Sie hat die Möglichkeit, den Sachverhalt aufzuklären, nutzt diese Möglichkeit aber nicht und sorgt selbstverschuldet für einen Stillstand des Verfahrens. Das lässt insgesamt das Verfahren gegen Assange als unfair erscheinen."

Über 1700 Tage Hausarrest

Im Ergebnis ist Assange seit über 1700 Tagen seiner Freiheit beraubt: Erst in Einzelhaft in einem britischen Gefängnis, dann im Hausarrest und schließlich seit rund drei Jahren im Asyl in der ecuadorianischen Botschaft in London. Seither wird die Botschaft rund um die Uhr bewacht, rund 17 Millionen Euro hat das den britischen Steuerzahler bis jetzt gekostet.

Ganz allgemein gehört in den Bereich der Tatsachen auch, dass Julian Assange und WikiLeaks sich mächtige Feinde gemacht haben. Besonders in den USA und besonders 2010. Zunächst brachte WikiLeaks das Video "Collateral Murder" heraus. Veröffentlicht am 5. April 2010, zeigt es, wie im Juli 2007 von einem US-Kampfhubschrauber aus zwölf Zivilisten getötet werden - darunter zwei Journalisten. Im Juli 2007 veröffentlicht WikiLeaks das "Afghanische Kriegstagebuch": Rund 76.000 geheime Dokumente, zumeist Frontberichte, die ein ungeschminktes und zumeist düsteres Bild der Kriegsrealität zeichnen. Das geschieht in Zusammenarbeit mit internationalen Medien wie der "New York Times", dem "Guardian" oder dem "Spiegel".

Im Oktober 2010 folgte die größte Veröffentlichung militärischer Dokumente in der Geschichte der USA: Das "Irakische Kriegstagebuch" umfasst knapp 400.000 Dokumente. Es wird klar: Die amerikanischen Streitkräfte wussten von schweren Folterungen und Misshandlungen irakischer Zivilisten durch Sicherheitskräfte und haben sie ignoriert. Und: Die Opfer unter der Zivilbevölkerung sind weit höher als zuvor bekannt. Ende November 2010 folgen die sogenannten Botschaftsdepeschen: interne Kommunikation zwischen den diplomatischen US-Vertretungen und dem Außenministerium in Washington. Hier war nachzulesen, wie Amerikas Diplomaten jenseits aller Höflichkeit die Welt und die Regierenden anderer Länder sehen. Das war oft nicht sehr schmeichelhaft. Washingtons damalige Chefdiplomatin Hillary Clinton musste sich international um Schadensbegrenzung bemühen.

Vier Tage nach der Veröffentlichung der Botschaftsdepeschen wird der europäische Haftbefehl gegen Assange erlassen. Am 7. Dezember erscheint Assange freiwillig auf einer Polizeiwache, wird dort festgenommen und für 10 Tage in Einzelhaft verlegt. Am Tag nach seiner Verhaftung schreibt der britische "Independent", die USA und Schweden hätten informelle Gespräche über eine Auslieferung in die USA wegen einer Untersuchung gegen Wikileaks begonnen.

Bradley Manning wird während seines Prozesses am 19. August 2013 von einem Beamten geführt (Bild: REUTERS/Kevin Lamarque)
Härte gegen Whistleblower: Prozess gegen Chelsea ManningBild: Reuters

Asyl aus Furcht vor Verfolgung durch USA

Die Furcht vor einer Auslieferung in die USA ist es auch, die Assange in der ecuadorianischen Botschaft Schutz suchen ließ. Sie ist der offizielle Asylgrund. Assanges Angst ist nicht unbegründet. Die US-Behörden gehen mit aller Härte gegen Informanten und Whistleblower vor. Die ehemalige US-Gefreite Chelsea Manning wurde als Quelle der WikiLeaks-Enthüllungen Ende 2013 zu 35 Jahren Haft verurteilt. Bereits im Juni 2013 berichtete die "New York Times" ausführlich über umfangreiche Anstrengungen mehrerer US-Behörden, eine Anklage gegen Assange wegen Spionage und Verschwörung gegen die USA vorzubereiten. Sie sollen bereits Zehntausende von Seiten an Beweismaterial gesammelt haben. Dabei hat Assange anders als Manning oder auch Edward Snowden nie für eine US-Behörde gearbeitet. Der Australier beruft sich auf sein Recht als Journalist und Wikileaks-Chefredakteur, Informationen wie etwa die Botschaftsdepeschen veröffentlichen zu können.

Deswegen wäre das Botschaftsasyl für Assange wahrscheinlich auch noch nicht vorbei, wenn Schweden sein Auslieferungsersuchen zurücknimmt. Für den Fall geht Strafrechtsexperte Gazeas davon aus, "dass die amerikanischen Behörden sofort ein Festnahmeersuchen an die britischen Behörden richten würden. Möglicherweise liegt ein solches auch schon vor und man hat Geheimhaltung darüber vereinbart".

Übrigens hat Julian Assange auch seine Vernehmung in Schweden angeboten. Bedingung: Eine Garantie, ihn nicht an die USA auszuliefern. Die wurde ihm verweigert.