Sexismus: Der Aufschrei bleibt
23. Januar 20182013 hätten viele Menschen mit dem Begriff Sexismus - der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts - nichts anfangen können und es mit Sex gleichgesetzt. Heute sei das anders, sagt Jasna Strick, Autorin, Bloggerin und Referentin zu den Themen Geschlechtergerechtigkeit und Feminismus.
Auch Laura Himmelreich, Chefredakteurin des Online-Jugendmagazins vice.com, findet, dass sich im Bewusstsein der Menschen etwas geändert hat. Dem Magazin "Spiegel" sagte sie im Oktober: "Damals wurde immer wieder über die Grundsatzfrage diskutiert: Gibt es Sexismus in Deutschland? Das fragt jetzt niemand mehr. Nun geht es eher darum, wie weit Sexismus in der Gesellschaft verbreitet ist." Für die Journalistin ein erster Schritt - von vielen.
Wie alles begann
Der Ursprung der Aufschrei-Debatte wird oft auf HimmelreichsPorträt des damaligen Vorsitzenden der FDP-Bundestagsfraktion, Rainer Brüderle, zurückgeführt. Die Journalistin schildert im Magazin "Stern" eine Begebenheit, bei der ihr Brüderle in Bezug auf ihre Oberweite sagte, sie könne "ein Dirndl auch ausfüllen". Neben dieser weitbekannt gewordenen Aussage beinhaltet der Text weitere Zoten des Politikers. Demnach bescheinigte Brüderle beim Besuch eines Milchviehbetriebs einem Rind mit Blick auf dessen Euter eine "Körbchengröße 90 L".
Diesen Text als alleinigen Auslöser zu bezeichnen, wäre allerdings verkürzt. Jasna Strick, eine der Initiatorinnen des Hashtags, erlebte Anfang 2013 eine "aufgekratzte Stimmung". Noch vor dem Brüderle-Porträt erschien ein Artikel zur Frauenfeindlichkeit in der Piratenpartei. Die weltweite Kampagne "One Billion Rising" war in Vorbereitung - eine Kampagne für Gleichstellung und gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Und nach einer Massenvergewaltigung in Indien mit Todesfolge herrschte weltweit Entsetzen.
In der Nacht zum 25. Januar 2013 trafen sich drei Frauen auf Twitter, darunter Strick, die aufgrund eines Artikels über alltägliche sexistische Bemerkungen und Übergriffe eigene Erfahrungen austauschten. Anne Wizorek entwickelte den Hashtag #Aufschrei.
Am selben Tag hatte der Stern besagtes Porträt des FDP-Urgesteins veröffentlicht. Die Bekanntheit Brüderles und der Fakt, dass er kurz zuvor Spitzenkandidat seiner Partei wurde, katapultierte die Sexismus-Debatte auch aus dem Netz heraus.
Immense Durchschlagskraft
Binnen kurzer Zeit teilten Tausende ihre Erfahrungen mit der Reduktion auf ihr zumeist weibliches Geschlecht - hier die Tweets der ersten zwei Wochen zum Nachlesen -, das Thema bestimmte die großen Talkshows, sogar internationale Medien wie die New York Times berichteten über die Ereignisse in Deutschland.
#Aufschrei bündelte die Emotionen, gab ihnen einen Raum. Die Frauen, die die Debatte angestoßen hätten, waren laut der Journalistin Himmelreich alle Ende 20, Anfang 30 gewesen - und mit dem Gefühl aufgewachsen, gleichberechtigt zu sein. "Und dann kamen sie ins Berufsleben und stellten fest: Ich werde hier anders behandelt als Männer. Und ich finde es unangenehm." Dass die negativen Erfahrungen allerdings schon aus der Schulzeit stammen können, zeigt ein Tweet der Aktivistin Strick.
Die Wucht, die die Debatte entwickelte, sorgte für ein Novum bei den "Grimme Online Awards". Erstmals wurde ein Hashtag ausgezeichnet. "Aus dem Netz wanderte das Thema zurück in die etablierten Medien und in die Politik, eine Wirkung, die zuvor noch kein Hashtag in Deutschland hatte", hieß es zur Begründung. Die Resonanz zeige, wie relevant und wirksam soziale Medien in der offenen, kontroversen Meinungsbildung sein könnten.
Verblichene Bedeutung auf Twitter
"Aufschrei ist zu einer Art Symbolbegriff geworden. Alle wissen direkt, es geht um diese Debatte", sagt Strick heute. Auf Twitter lässt sich der Hashtag allerdings nicht mehr mit Sexismus-Erfahrungen verknüpfen. Er ist zum Synonym geworden für allgemeine Empörung, wird ironisch angewandt oder von Rechtsgesinnten genutzt, um die angebliche Gleichgültigkeit über Straftaten, die von Ausländern verübt wurden, anzuprangern.
Dafür gibt es im Netz ein neues Schlagwort: #MeToo. Auslöser waren dieses Mal die Enthüllungen über sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungsvorwürfe gegen den Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein. Strick findet es gut, dass die Debatte international geführt wird und viele bekannte Personen dazu beitragen. "Wenn es überhaupt möglich ist, das Problem flächendeckend zu lösen, dann braucht jede Generation 'ihre' Sexismusdebatte", sagt Strick im Gespräch mit der Deutschen Welle. Es sei ein Thema, das immer wieder diskutiert werden müsse und man nicht "aus einem Schulbuch lernen" könne.
Anne Wizorek, Beraterin für digitale Medien und Aktivistin für Feminismus, reicht das nicht. Sie kommentierte nach Bekanntwerden des Weinstein-Skandals in einem Gastbeitrag für die DW: "Dafür, dass dieses gesellschaftliche Problem so weitreichend ist und so starke Einschnitte in die Freiheiten von Mädchen und Frauen bedeutet, ist es allerdings immer noch erschreckend unsichtbar." Um etwas zu verändern, müssten auch Geschlechterstereotype in der Erziehung von Jungen und Mädchen aufgebrochen werden.
Rückschläge für den Feminismus
Nach Ansicht von Jasna Strick blieb Sexismus in unterschiedlicher Intensität ein Thema - nicht zuletzt durch den Wahlkampf von US-Präsident Donald Trump, in dem wiederholt dessen übergriffiges Verhalten und abfällige Äußerungen über Frauen bekannt geworden waren. Allerdings habe sich dabei auch gezeigt: "Selbst wenn es nachweisbar ist, dass Männer sich so äußern oder handeln, ist damit das Ende der Karriere noch nicht eingeleitet."
Dieses Beispiel zeigt, dass in den letzten fünf Jahren nicht alles besser geworden ist. "Wir befinden uns gerade mitten in einem rechtskonservativen Rückschlag. Da gehört eben nicht nur dazu, dass die AfD von vielen Leuten gewählt wird, sondern damit geht ein gewisses Familien- und Frauenbild einher", so Strick.
Sie findet es noch aus einem anderen Grund wichtig, das Thema immer wieder anzusprechen: Alltagssexismus bilde den Nährboden für sexualisierte Gewalt. "Wenn ich im Alltag ein sexistisches Klima schaffe, zum Beispiel am Arbeitsplatz oder in der Familie durch blöde Sprüche, dann kann das zu Übergriffigkeit führen, weil es normalisiert ist."
Sie findet es "traurig und bitter", wenn nach all den Jahren der Diskussion immer noch argumentiert wird, Frauen seien doch selbst Schuld an Übergriffen, wenn sie sich zu freizügig kleideten. Ihr Ansatz dagegen: "Da darf man wohl nicht aufgeben."