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Sexismus im Schach - wie wird der Sport sicherer?

Anja Röbekamp
31. August 2023

Seit Mitte Februar rumort es in der Schach-Welt: Berichte über sexualisierte Gewalt erschüttern den Sport. Betroffene ergreifen das Wort und fordern Konsequenzen - immer mehr Fälle massiver Übergriffe werden bekannt.

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Werner-Ott-Open des Kreuzberger Sommers im Schachclub Berlin
Bild: Andreas Gora/dpa/picture alliance

"Es gibt garantiert keine Frau, die sagen würde, sie hätte noch nie einen dummen Spruch gehört", sagt Ingrid Lauterbach der DW. Sie habe noch erlebt, dass irgendjemand sie vielleicht mal umarmen wollte, wo sie es nicht wollte. Oder jemand ihr einen Kuss auf die Wange drücken will, obwohl sie es nicht will. Oder sogar noch Schlimmeres. 

Die Präsidentin des Deutschen Schachbundes (DSB), die selbst Internationale Meisterin ist, spielt seit Jahrzehnten auf internationalen Turnieren. Sie hat zwar selbst nie einen körperlichen Übergriff erlebt, aber sie kennt die typischen Sprüche. Der DSB ist wie die restliche Schachwelt gefordert, dieses Problem anzugehen: Sexismus. Es gibt ihn überall. Und auch der Schachsport hatte Anfang August seinen ganz eigenen  #MeToo-Moment.

Offener Protest

Mit einem "Offenen Brief" wandten sich Betroffene aus der Schachwelt an die Öffentlichkeit, um Veränderungen einzufordern: "Wir, Schachspielerinnen, Trainerinnen, Schiedsrichterinnen und Managerinnen, haben sexistische oder sexuelle Gewalt erlebt, die von Schachspielern, Trainern, Schiedsrichtern oder Managern ausgeübt wurde", heißt es in dem Schreiben. Über hundert Frauen aus aller Welt haben diesen Brief unterschrieben - auch die deutsche Nationalspielerin Annmarie Mütsch. Sie sagte kürzlich dem Nachrichtenmagazin "Spiegel", dass sie sogar schon wichtige Turniere abgesagt hätte, weil sie dort auf bestimmte Männer getroffen wäre, denen sie lieber nicht begegnen wollte. 

Schachspielerin Annmarie Mütsch beim Schachgipfel 2022
Die deutsche Schach-Nationalspielerin Annmarie Mütsch ist eine der Unterzeichnerinnen des offenen BriefsBild: Paul Meyer-Dunker

Ist Schach in dieser Frage besonders gefährlich für Frauen? "Natürlich wurde ich mal bei einem Schachturnier angemacht. Vielleicht war das auch ein bisschen unangenehm. Aber ich würde das nicht unter sexueller Belästigung einordnen", sagt Josefine Heinemann, Großmeisterin und Aktivensprecherin des DSB. Vor allem sei ihr das nicht nur beim Schach passiert, sondern auch im normalen Leben außerhalb dieses Sports. Sexualisierte Gewalt sei ein gesamtgesellschaftliches Problem, kein Schach-spezifisches. 

Ungewöhnliche Konstellationen am Brett

Aber etwas ist anders im Schach: Frauen sind dort eine Minderheit, ihr Anteil beträgt nur zehn Prozent. Es gibt zwar reine Frauenturniere, aber wer als Frau im Spitzensport mitspielen will, muss auch gemischte Turniere wahrnehmen, um weiter zu kommen. Und nur im Schach sitzen Mädchen einem älteren Mann in einer Wettkampfsituation gegenüber. Und das kann beim Gegenüber schon mal zu Irritationen führen, wenn die jüngere Frau gewinnt. "Insbesondere wenn ältere Herren gegen kleinere Mädchen verlieren, kommt es oft dazu, dass da auch mal ein Kommentar kommt", sagt Heinemann.

Eine größere Gefahr sieht die Großmeisterin allerdings jenseits des Bretts: "Aus meiner Sicht kommen im Internet schon echt eine Menge dummer Kommentare. Was ich lese, finde ich sehr schockierend." Die Anonymität im Internet trage einen großen Teil dazu bei, weil die Hemmschwelle sinke. Auch DSB-Präsidentin Lauterbach glaubt, dass die modernen Kommunikationswege es leichter machen, unerwünschten Kontakt herzustellen. Das Internet ist aber andererseits auch der Ort, wo die Betroffenen jetzt zurückschlagen.

Shahade macht den Anfang

Die Frauen wollen nicht länger schweigen. Angefangen hatte es im Februar, als Jennifer Shahade, zweimalige US-Meisterin und einflussreiche Schach-Autorin aus den Vereinigten Staaten auf X folgendes postete: "Die Zeit ist um". Dort beschrieb sie, wie sie durch den Schach-Großmeister Alejandro Ramirez "sexuelles Fehlverhalten" erlebt hätte.

Binnen Minuten antworteten viele Frauen, dass sie Ähnliches erlebt hätten. Auch ein Mann bekannte per Tweet, Zeuge von Übergriffen an jungen Frauen durch Ramirez geworden zu sein - und es im Jahr 2011 nicht besser gewusst zu haben. Dabei hatten zu diesem Zeitpunkt bereits diverse Missbrauchsskandale weltweit schon für viel Aufsehen gesorgt. Aber beim Schach fiel offenbar niemandem etwas auf? 

"Seitdem ich den Brief unterschrieben habe, habe ich mehr darüber nachgedacht, was ich für Vorfälle erlebt habe. Mir ist so viel eingefallen, das mir bislang gar nicht so bewusst war", so Mütsch. Vielleicht weil es so alltäglich war? 

Diffuse Ansprechpartner 

Es gibt derzeit eine Initiative um die amerikanisch-kanadische Schachspielerin und Influencerin Alexandra Valeria Botez, die eine anonymisierte, internationale Datenbank errichten möchte, die weltweit alle Fälle von sexualisiertem Missbrauch im Schachsport speichert. Auch weil es von der FIDE, dem Weltschachverband, bislang keine Reaktionen auf dieses Thema gibt. Eine Anlaufstelle für Betroffene existiert dort ebenfalls nicht - einziger Ansprechpartner wäre die Ethikkommission.

Ingrid Lauterbach, Präsidentin Deutscher Schachbund
DSB-Präsidentin Ingrid Lauterbach wünscht sich mehr Sensibilität für das Sexismus-Problem im SchachsportBild: Arne Jachmann

Ingrid Lauterbach bezweifelt indes, dass die Kommission die richtige Anlaufstelle wäre - nicht nur weil diese sehr langsam arbeite. Sondern weil es sicher auch besser wäre, Verantwortliche direkt vor Ort anzusprechen. Sie hofft insgesamt auf mehr Aufmerksamkeit für diese Problematik: "Dass wir noch mehr gucken. Dass auch Schiedsrichter gucken. Dass Trainer mehr aufpassen“.

Langfristig wäre vor allem wichtig, den Mädchen- und Frauenanteil auf allen Ebenen zu erhöhen, um dann auch mehr Schiedsrichterinnen und Trainerinnen zu haben. Der DSB arbeitet seit 2021 an Maßnahmen zur Prävention sexualisierter Gewalt im Sport und will dieses Konzept weiter ausbauen. Auf seiner Homepage benennt er dafür eine Ansprechpartnerin. Direkte Ansprache für Betroffene leistet in Deutschland aber eher die "Ansprechstelle Safe Sport", die Bund, Länder und der organisierte Sport gemeinsam tragen. 

Schach bietet Frauen große Chancen

Wenn Mädchen und Frauen dem Schach fern bleiben, ist das ein Verlust für den Sport. Und ein Verlust für die Frauen, die sich damit Entwicklungsmöglichkeiten entgehen lassen. Zumal Schach für Frauen und Mädchen große Chancen bietet, um in der Schule oder in der Universität besser zu sein, sagt DSB-Präsidentin Lauterbach. Wenn es gelänge, mehr Mädchen und Frauen für den Schachsport zu gewinnen, müsste natürlich zunächst dafür gesorgt sein, dass sie sich auch sicher fühlen können.

Lauterbach setzt auf Aufklärung an der Basis, wo das Bewusstsein für die Problematik noch nicht ausreiche. Und: Allen Tätern müsse klar sein, dass ihr Verhalten nicht toleriert wird. "Ich glaube, wir müssen dahin kommen, dass die Abschreckung so hoch wird, dass sich das niemand mehr erlauben kann", so die  Präsidentin des DSB.