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PolitikAsien

Aufsteiger und Etablierte

Frank Sieren
9. Juli 2020

Sigmar Gabriel schlägt vor, Chinas Einfluss gemeinsam mit Demokratien wie Japan und Südkorea einzudämmen. Das wird nicht funktionieren, denn er unterschätzt die gemeinsamen Interessen der Asiaten, meint Frank Sieren.

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Schwäbisch Hall | Sigmar Gabriel
Der frühere Bundesaußenminister und SPD-Vorsitzende Sigmar GabrielBild: picture-alliance/dpa/S. Gollnow

Die sogenannte "Entkopplung" von China sei zu einem "Schlachtruf des Kalten Krieges 2.0" geworden, schreibt der frühere sozialdemokratische Bundesaußenminister Sigmar Gabriel in einem Gastbeitrag für die "Global Challenges" der DvH-Medien. Dass solch eine wirtschaftliche und geopolitische Lossagung für Europa einem Eigentor historischen Ausmaßes gleichkäme, hat Gabriel klar erkannt: "Wie sollen Menschheitsaufgaben wie der Klimaschutz, die Proliferationskontrolle nuklearwaffenfähiger Technologien oder künftige Pandemiebekämpfungen ohne Zusammenarbeit mit China bewältigt werden?" fragt er und macht deutlich, dass das Ende der jahrzehntelang gewachsenen Kooperation mit China vor allem auch Deutschland schaden werde, "dem großen Gewinner der Globalisierung".

Doch wie soll man einem immer selbstbewussteren China entgegentreten? Gabriel schlägt vor, dass die Demokratien des Westens enger mit den asiatischen Demokratien zusammenstehen sollen, um "begleitet von Welthandelsorganisation, dezidierten Forderungen nach Gleichbehandlung und gemeinsamen Angeboten an Afrika" ein Gegengewicht zu bilden. Das ist eine gute Idee.

Anderes Verständnis von Individuum und Gemeinschaft

Die Frage ist nur, wie realistisch sie ist, wenn schon die Europäer untereinander sich kaum auf eine Linie gegenüber China bringen lassen. Und dann reden wir noch nicht einmal davon, sich mit Russland oder der Türkei zu einigen. Mit asiatischen Nationen ist das natürlich nicht einfacher. Bei Australien und Neuseeland mag das noch funktionieren. Bei Japan, Südkorea und Indonesien wird es schon schwieriger. Selbst bei Indien.

Der Grund dafür liegt auf der Hand: Diese Länder sind zwar allesamt Demokratien. Dennoch sind die kulturellen Unterschiede, die sie zu Europa empfinden, am Ende doch größer als die demokratischen Gemeinsamkeiten mit Europa. Der wichtigste Unterschied: Diese Länder pflegen ein anderes Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft. Der Einzelne ist eher bereit, sich zum Wohle der Gemeinschaft zurückzunehmen, um dann später wieder durchaus als Einzelner von den Erfolgen des Kollektivs zu profitieren. Deswegen haben sich asiatische Demokratien auch anders ausgeprägt. Das hat sich auch im Umgang mit der Corona-Krise deutlich gezeigt.

Prägende Kolonialgeschichte

Wir sollten zudem die Geschichte dieser Länder nicht vergessen: Prägend für sie ist die Unterdrückung durch den Westen in der Kolonialzeit. Und auch die anderen Religionen spielen eine zentrale Rolle.

Vor allem ist jedoch das grundlegende Lebensgefühl ein anderes. Die asiatischen Gesellschaften sind allesamt Aufsteigergesellschaften, wenn auch in unterschiedlicher Geschwindigkeit und Intensität. Die Gesellschaften des Westens hingegen sind etabliert und vor allem darauf konzentriert, das Erreichte zu bewahren. Besonders auffällig ist das, wenn es um die Offenheit gegenüber neuen Technologien geht. Da liegen Welten zwischen Asien und dem Westen, vor allem auch mit Europa.

Deutschland Sigmar Gabriel und  Wang Yi in Berlin
Als Außenminister traf Sigmar Gabriel mehrfach mit seinem chinesischen Amtskollegen Wang Yi zusammenBild: picture-alliance/dpa/K. Nietfeld

Asiatische Aufbruchsstimmung

Die Aufbruchsstimmung Asiens lässt sich durchaus in Zahlen fassen: Asien und China schafften 2019 an der Kaufkraft gemessen zusammen 63 Prozent des Wachstums der Weltwirtschaft. Die USA und der Euroraum zusammen nur 15 Prozent. Nur vier Prozent davon kommen dabei noch aus Europa. 1980 waren es noch 30 Prozent. Diese Erfahrungen prägen die Menschen natürlich außerordentlich. Schon heute produzieren, exportieren, investieren und konsumieren die Asiaten untereinander mehr als mit Europa oder den USA. Und Asien entwickelt auf Initiative Chinas eigene Institutionen wie die asiatische Entwicklungsbank, um noch besser grenzübergreifend kooperieren zu können. Noch in diesem Jahr wollen die Asiaten in jedem Fall mit China und, wenn es gut läuft, auch mit Indien ein Freihandelsabkommen abschließen. Das ist wäre die größte Freihandelszone der Welt.

Daran ändern offensichtlich auch die besorgniserregenden Entwicklungen in Hongkong nichts, nicht die anhaltenden Spannungen im südchinesischen Meer, die Skandale um Xinjiang oder der Grenzkonflikt mit Indien. Im Gegenteil: Der Handel zwischen China und dem sonstigen Asien nimmt stetig zu. China ist schon seit zehn Jahren der größte Handelspartner der ASEAN-Staaten und durch die Corona-Krise sind die ASEAN-Staaten im ersten Quartal dieses Jahres auch erstmals zum größten Handelspartner Chinas geworden. Bisher war das die EU. In den ASEAN-Staaten leben 622 Millionen Menschen, in der EU 513 Millionen. Die meisten sind Muslime (24 Prozent), gefolgt von Buddhisten (18 Prozent) und Christen (17 Prozent). Dennoch kommen sie gut miteinander klar - auch mit ihren Nachbarn, den chinesischen Konfuzianisten.

Frank Sieren *PROVISORISCH*
DW-Kolumnist Frank SierenBild: picture-alliance/dpa/M. Tirl

Die Rolle der ASEAN-Staaten gegenüber China mag sich nach der Corona-Krise wieder etwas relativieren. Der Trend hat jedoch eine klare Richtung: China und die anderen Staaten Asiens wachsen trotz großer politischer Differenzen und religiöser Unterschiede immer enger zusammen. Selbst die politischen Differenzen zwischen Südkorea und China sind nach schwierigen Jahren jüngst wieder sehr viel besser geworden. Ausnahmen bleiben Australien und Neuseeland, die sich klar gegen Peking stellen. In Japan hingegen ist die Lage schon durchwachsener. Die regierende liberaldemokratische Partei ist zerstritten darüber, wie sie angesichts des jüngsten, sogenannten Sicherheitsgesetzes für Hongkong mit Peking umgehen soll. Teile der LDP wollen eine geplante aber noch nicht terminierte Reise von Staats- und Parteichef Xi Jinping nach Japan absagen - andere, darunter Generalsekretär Toshihiro Nikai, halten das für überzogen. Eine solche Antichina-Resolution würde "das Erreichte unserer Vorgänger null und nichtig werden lassen."

Eine deutliche Sprache spricht auch das überraschende Ergebnis der Tagung des UN-Menschenrechtsrates vergangene Woche, wo es darum ging, das neue Pekinger "Sicherheitsgesetz" für Hongkong zu verurteilen. 53 Länder weltweit unterstützten das Gesetz und nur 27 Nationen kritisierten Peking dafür, darunter die Mehrheit Europas. In Asien und Ozeanien sind es wieder nur Australien, Neuseeland und Japan.

Neue Vorbilder für Asien

Der Westen ist also längst nicht mehr der einzige politische und wirtschaftliche Maßstab für Asien, sondern eben auch die erfolgreichen Vorbilder Singapur, China und Südkorea.

Die Demokratien in Europa gelten als vorbildlich, was zum Beispiel Rechtstaatlichkeit, Pressefreiheit, Ausbildung und Umweltschutz betrifft. Aber sie gelten eben politisch auch schon mal als planlose Zauderer und Bedenkenträger. Der Umgang mit Corona in Europa und vor allem auch den USA hat dabei das Vertrauen der aufsteigenden Länder Asiens nicht gestärkt. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass die Welt so wie sie im 19. Jahrhundert europäisch geprägt war und im 20. amerikanisch, nun im 21. asiatisch geprägt sein wird.

Versuchen könnte Europa dennoch, was Sigmar Gabriel vorschlägt: Die EU sollte den Schulterschluss mit den asiatischen Demokratien suchen. Gelingen kann das jedoch nur, wenn Europa selbst vorbildlich handelt und Brüssel gleichzeitig nüchtern analysiert, welchen anderen Blickwinkel die Asiaten auf die Welt haben als die Europäer. Ansonsten ist die Gefahr groß, dass Vertreter der europäischen und asiatischen Demokratien nur aneinander vorbeireden.

Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über 20 Jahren in Peking.