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Sima Samar: "Nachhaltige Fortschritte"

Waslat Hasrat-Nazimi30. Mai 2013

Die Situation der Frauen Afghanistan habe sich seit 2001 verbessert, sagt Sima Samar, Menschenrechtsaktivistin und Trägerin des Alternativen Nobelpreises im DW-Interview. Aber wie geht es nach 2014 weiter?

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Sima Samar (Foto: dapd)
Bild: dapd

DW: Was ist seit der Niederschlagung der Taliban-Herrschaft im Jahr 2001 im Bereich der Menschenrechte und der Frauenrechte erreicht worden?

Sima Samar: Wir haben in dieser Zeit mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft viel erreicht in Sachen Frauen- und Menschenrechte. Unter den Taliban war Schulunterricht für Mädchen verboten, jetzt gehen drei Millionen Mädchen zur Schule. Natürlich haben immer noch nicht alle Mädchen Zugang zur Schulbildung, aber doch viele.

Auch bei der Gesundheitsversorgung haben wir Fortschritte gemacht, wenn sie auch nicht in allen Gegenden des Landes zur Verfügung steht und nicht alle Männer und Frauen Zugang zu adäquater medizinischer Versorgung haben.

Große Fortschritte gibt es bei der Meinungsfreiheit. Heute haben wir eine blühende Medienlandschaft in Afghanistan, offener und freier als in unseren Nachbarländern. Auch die Existenz der Menschrechtskommission ist in sich eine Errungenschaft, die Kommission leistet angesichts der schwierigen Lage hervorragende Arbeit.

Glauben Sie, dass diese Entwicklungen auch in Zukunft aufrecht erhalten werden können?

Dies sind unsere größten Errungenschaften der vergangenen elf Jahre. Ich bin zuversichtlich, dass sie von Dauer sei werden, weil die Menschen sich dieser Errungenschaften und ihrer Rechte bewusst sind und sie verteidigen werden.

Welche Herausforderungen und auch Gefahren für die Frauenrechte sehen sie für die Zeit nach dem Abzug der internationalen Truppen im Jahr 2014?

Wir werden es nach 2014 mit zwei Problemen zu tun haben: Die Lage im Inneren wird etwas unsicherer werden, und wir werden wirtschaftliche Schwierigkeiten bekommen. Beides wird sich auf die Menschenrechtssituation und speziell auf die der Frauenrechte auswirken. Wir werden uns Herausforderungen stellen müssen, aber ich glaube nicht, dass alle Fortschritte zunichte gemacht werden. Woher ich meine Zuversicht nehme? Nun, ich habe schon mit vielen Regierungen gekämpft, einschließlich der momentanen. Die Situation hat sich deutlich verbessert, man kann sie nicht mit der Situation in den 1980er und 90er Jahren vergleichen. Jetzt sind wir im 21. Jahrhundert und die Menschen haben Zugang zu moderner Technologie. Diese Entwicklungen kann man nicht ungeschehen machen.

Wenn Sie die Zeit, in der Sie in Afghanistan aufwuchsen, mit der heutigen vergleichen, wie fühlen Sie sich?

Ich bin in der Provinz Helmand zur Schule gegangen, in eine gemischte Jungen- und Mädchenschule. Dort habe ich 1974 Abitur gemacht. Heute kann sich keiner mehr vorstellen, dass es in Helmand solche gemischten Schulen gab. Damals herrschte Frieden. Das Land war arm, aber friedlich. Im Krankenhaus von Aliabad gab es ein Strahlenzentrum für Krebspatienten, etwas, was es heute nicht gibt bei uns. Es gab Rechtsstaatlichkeit. Die Regierung war gewiss nicht perfekt, aber sie war weniger korrupt. Die Bevölkerung war kleiner, es gab weniger Flüchtlinge und wir waren in geringerem Maße schlechten Einflüssen aus der Region ausgesetzt.

Sie haben das Gesundheitssystem in Afghanistan erwähnt, das heute viel besser ist als vor 30 oder 40 Jahren. Dennoch sprechen viele von einer Krise im Gesundheitswesen Afghanistans. Sie sind selber Ärztin. Wie sehen Sie die aktuelle Situation?

Uns fehlen immer noch Gesundheitseinrichtungen wie zum Beispiel ein Radiotherapie-Zentrum. Der Grund: die internationale Gemeinschaft möchte erst eine Stiftung gründen. Das ist nicht der richtige Ansatz. Wir brauchen eine Basisversorgung, das ist richtig, aber wir brauchen auch die Möglichkeit zur Radiotherapie, das ist ebenso eine grundlegende Notwendigkeit. Es wäre doch besser, die Versorgung hier im Land zu haben, anstatt in unseren Nachbarstaaten viel Geld für medizinische Behandlung auszugeben. Das Geld sollten wir lieber in Afghanistan behalten.

Viele Menschen vertrauen aber den afghanischen Ärzten nicht. Sie behaupten, diese seien eher Geschäftsleute als Mediziner. Wie kann man das verändern?

Wir brauchen mehr Verantwortlichkeit im Gesundheitswesen. Früher, als wir Examen machten, konnten wir nicht gleich eine Praxis eröffnen. Dazu mussten wir erst Berufserfahrung vorweisen und eine Genehmigung einholen. Heute ist das anders. Jeder, der einen Universitätsabschluss in Medizin hat, kann eine eigene Praxis aufmachen. Manche Doktoren verschreiben zehn verschiedene Medikamente - mehr zu ihrem eigenen wirtschaftlichen Nutzen als zum Wohl des Patienten. Keiner dieser Ärzte, die nur am Profit interessiert sind, erfährt je Sanktionen. Wir brauchen also dringend eine Evaluation und eng geführte Kontrollen durch das Gesundheitsministerium.

Hinzu kommt, dass die Menschen mangels Alternative oft den Mullah aufsuchen, statt zum Arzt zu gehen. Das liegt zum Teil an mangelnder Bildung. Ein Mullah kann sie weder behandeln, noch ihre Krankheit heilen, er kann sie lediglich moralisch unterstützen. Aber wie will man die Menschen davon überzeugen?

Wenn wir uns das momentane Bildungssystem ansehen, dann sehen wir eine Menge Frust unter den Studenten. Warum protestieren sie?

Ohne Zweifel muss das Bildungswesen in Schulen und Universitäten reformiert werden. Voraussetzung dafür ist eine politische Reform zur Erneuerung der Curricula und des Erziehungssystems. Wir sollten heute nicht mehr die gleichen Inhalte lehren wie vor 30 Jahren.

Kürzlich lehnte das afghanische Parlament ein Gesetz zur Verhinderung von Gewalt an Frauen ab. Das hat viele Frauen enttäuscht. Was ist schiefgegangen?

Das Gesetz war bereits in Kraft, es wurde nur noch nicht angewandt. Wir hätten es nicht auf die Agenda des Parlaments setzen sollen, denn es war klar, dass es dort abgelehnt werden würde. Aber ich gebe nicht auf. Entscheidend für uns Frauen ist, vereint zu sein und gemeinsam vorzugehen. Wir müssen bei den Abgeordneten Überzeugungsarbeit leisten, damit sie dem Gesetz doch noch zustimmen. Ich glaube, im Grunde ist die Mehrheit nicht dagegen. Ich hoffe, die Abgeordneten erkennen, dass sie alle von einer Frau geboren wurden und werden sich nicht über ihre Mütter stellen.

Mein Wunsch ist, dass die Menschen in Afghanistan eines Tages in Würde leben können und dass Männer und Frauen gleiche Rechte haben. Was die Jugend betrifft, so hoffe ich, dass sie stärker Verantwortung übernehmen wird, als unsere Generation das getan hat.