Simone Biles: Wenn der Kopf nein sagt
2. August 2021Und plötzlich machte es klick. Eigentlich hatte Simone Biles geplant, sich nach dem Absprung zweieinhalb Mal um die eigene Achse zu drehen. Unzählige Male hatte der Turn-Superstar aus den USA diesen Sprung schon im Training und Wettkampf gestanden. Doch im olympischen Mannschaftswettbewerb von Tokio sagte ihr Kopf nein - sie habe "mit Dämonen gekämpft", sagte Biles hinterher. Und so landete sie diesmal nach "nur" anderthalb Drehungen auf der Matte. "Twisties" nennen die Turnerinnen und Turner in den USA mentale Blockaden wie die von Biles.
"Der Rhythmus ist gestört, und das Gehirn stottert für eine halbe Sekunde. Das reicht aus, um die ganze Übung zu stören", sagt Lauren Hernandez, die 2016 in Rio de Janeiro gemeinsam mit Biles Gold mit dem US-Team gewonnen hatte. "Und je mehr Gedanken du dir darüber machst, desto schlimmer wird es", ergänzt Alea Finnegan, eine 18 Jahre alte Turnerin aus dem US-Kader, die sich nicht für die Spiele in Tokio qualifizieren konnte. "Man hat keine Kontrolle über sich selbst und darüber, was der Körper als Nächstes tun wird, und riskiert damit buchstäblich sein Leben." Etwa wenn man unglücklich vom Gerät stürzt.
Hundertprozentige Konzentration ist nötig
Normalerweise sind solche Blockaden im Turnen eher selten, "weil die Athleten während ihrer Karriere lernen, einen unglaublichen Fokus zu entwickeln", sagt Jens Kleinert, Leiter des Psychologischen Instituts an der Deutschen Sporthochschule Köln, der DW. "Die hohen Anforderungen an die körperliche Motorik und die Koordination erfordern eine hundertprozentige Konzentration auf die Aufgabe. An den Geräten dürfen daher solche Blockaden nicht vorkommen."
Negative Gedanken oder solche, die nichts mit der Turnübung zu tun hätten, führten, so Kleinert, "unter Umständen zu kleinen Änderungen des Bewegungsablaufs oder der Muskelspannung. Die Folge kann nicht nur eine schlechte Leistung sein, sondern auch ein Sturz oder eine Verletzung."
Wer grübelt, hat fast schon verloren
Mentales Training ist nötig, damit es nach Möglichkeit gar nicht erst zu Blockaden kommt. "Es ist eigentlich die Vorgabe vor dem Wettkampf, ganz viel Vertrauen in den Körper, die Technik, die Leistung und in die eigene Person zu sammeln", erklärt der Sportwissenschaftler. "Wenn mentale Probleme während des Wettkampfs auftauchen, können die Athleten in Sportarten wie dem Turnen in den Pausen zwischen den Übungen daran arbeiten. Viele versuchen, sich mit Musik oder anderen Medien zu entspannen und abzulenken."
Wenn es aber wieder in den Wettkampf gehe, müssten die Sportlerinnen und Sportler "den Fokus auf dem Hier und Jetzt haben, dürfen also nicht an Vergangenes oder Künftiges denken. Wenn ich während einer Aufgabe an negative Konsequenzen denke, habe ich schon fast verloren."
Und wenn es, wie im Fall Biles, trotz allem doch im Wettkampf passiert? "Wenn ich während einer Übung gedanklich wegdrifte, muss es ein gnadenloses Stoppsignal geben und einen blitzschnellen Fokus zurück auf die Aufgabe", antwortet Kleinert. "Das ist die einzige Chance, die Athleten haben."
Je mehr Star, desto gefährdeter
Simone Biles brach nach ihrem Aussetzer den Team-Wettbewerb ab und verzichtete unter Hinweis auf ihre mentale Gesundheit auch auf den Einzel-Mehrkampf. Allerdings will sie in Tokio nach ihrer Auszeit doch noch einmal an den Start gehen. Biles wurde für die Medaillenentscheidung am Schwebebalken am Dienstag (10 Uhr MESZ) offiziell gemeldet. An diesem Gerät gilt Biles nach Platz sechs in der Qualifikation nicht als Top-Favoritin.
Die 24-Jährige, die 2016 in Rio viermal Gold und einmal Bronze gewonnen hatte, ist der zweite aktuelle Superstar des Sports, der psychische Probleme öffentlich gemacht hat. Die Japanerin Naomi Osaka hatte vor knapp zwei Monaten wegen Depressionen ihren Start bei den French Open der Tennisprofis abgebrochen.
"Bei Menschen, die so sehr in der Öffentlichkeit stehen wie Simone Biles oder auch Naomi Osaka, ist es wahrscheinlicher, dass sie sich Dinge zu Herzen nehmen, da der Druck von außen größer ist", sagt Jens Kleinert der DW. "Normalerweise lernen Athleten, damit umzugehen und so etwas abzublocken. Aber je mehr sie davon annehmen und Erwartungsdruck zu eigenem Druck führt, desto schwieriger wird es, dagegen anzugehen - besonders wenn, wie bei Biles, noch andere Faktoren dazukommen, wie der sexuelle Missbrauch, den sie erfahren musste. Dann ist man noch verletzlicher."