Warten auf den Schnelltest
2. November 2020Viele Slowaken waren bereits morgens um sieben gekommen, um sich an einer der 5000 Teststellen ein Wattestäbchen ins Nasenloch rammen zu lassen. Dafür nahmen sie auch lange Wartezeiten in Kauf. "Ich musste am Samstag drei Stunden warten", erzählt der Schriftsteller Michal Hvorecký der DW über sein Testerlebnis in der Altstadt von Bratislava. Das Resultat ist dafür umso schneller da, höchstens eine halbe Stunde dauert es, dann herrscht Klarheit - infiziert oder nicht. Hvoreckýs Antigen-Test war negativ, erzählt er freimütig. In der ersten Testrunde am Wochenende wurden allerdings insgesamt 26.000 COVID-19-Infizierte gefiltert.
Das entspricht etwa einem Prozent der Slowaken, die einen Abstrich hatten vornehmen lassen. Denn etwa die Hälfte der rund 5,5 Millionen Einwohner war dem Aufruf ihres Premiers gefolgt, sich kostenlos und freiwillig auf COVID-19 testen zu lassen. 45.000 Fachkräfte aus dem Gesundheitsministerium, Soldaten und Polizisten halfen dabei. Am kommenden Wochenende folgt die zweite Testrunde.
Ein besseres Image für Premier und Armee?
Der slowakische Premier Igor Matovič hat seinen Landsleuten ein anderes Rezept als Nachbar Österreich verordnet, der seine Gaststätten und Kultureinrichtungen für einen Monat schließt. "Wir haben die große Chance, Europa und der Welt zu zeigen, dass es auch anders geht", begründete der Unternehmer die Massentests, "ohne die Wirtschaft zu schließen und Millionen von Menschen arbeitslos zu machen." Der Antigen-Schnelltest ist zwar nicht ganz so zuverlässig wie ein PCR-Test, liegt dafür aber schneller vor.
Der negative Corona-Test ist die neue Währung in der Slowakei. Ohne Test darf niemand einreisen, ohne negatives Testergebnis dürfen die Slowaken nicht arbeiten gehen. Die liberale Staatspräsidentin Zuzana Čaputová befürchtete deshalb auch eine Zwei-Klassen-Gesellschaft: die mit einem "Passierschein für die Freiheit" und jene, die nicht mehr an die Reihe gekommen seien. "Das könnte eine Erfolgsgeschichte werden", meint dagegen Autor Hvorecký vor allem mit Blick auf die Armee. Binnen zehn Tagen hatte sie die COVID-19-Tests organisiert. Die stabsmäßig durchgeführte Aktion könnte das ramponierte Image der Streitkräfte aufpolieren, meint der Schriftsteller gegenüber der DW. Mit dem Massentest und mit Hilfe der neuen Medien wolle sich auch Premier Matovič "als starker Mann" profilieren. Denn auch sein Image sei angekratzt, die Umfragewerte des Populisten sinken seit dessen Amtsantritt im März kontinuierlich. "Hunderte Menschenleben" könnten gerettet werden, brüstet sich der Premier, die ganze Welt werde das Experiment aufmerksam verfolgen.
Hvorecký, dem ein "harter Lockdown" lieber wäre, winkt ab. Politik sei für den "Meister der sozialen Netzwerke" Matovič vor allem "eine große Show", aber "ob dieses Experiment wirklich dazu beiträgt, die Pandemie in der Slowakei zu bekämpfen, das werden wir erst in der nahen Zukunft sehen." Denn insgesamt steigt auch in der Slowakei die Kurve der Corona-Infizierten steil an. Einen Tag vor Beginn der ersten Massentests waren erstmals 3363 neue Corona-Infektionen an einem Tag nachgewiesen worden.
Der Autor aus Bratislava glaubt, dass seine Landsleute vor allem deshalb bei dem Massentest mitmachen, "weil sie Angst vor dem schwachen Gesundheitssystem in der Slowakei haben." Etwa sechs Betten und vier Ärzte stehen für je 1000 Patienten zur Verfügung. Viele Ärzte und Krankenschwestern arbeiten lieber im westlichen Ausland, weil sie dort mehr verdienen. Und auch unter dem Krankenhauspersonal grassiert das Virus. Die Corona-Hotspots des kleinen Landes liegen dabei an der polnischen und ukrainischen Grenze, mit doppelt so vielen Infizierten wie in der Hauptstadt Bratislava, das mit etwas über 6400 Corona-Positiven noch immer eine "grüne Zone" sei, wie Hvorecký betont.
Kritik am Massenexperiment - Hilfe aus dem Ausland
Dass am ersten Test-Wochenende 200 Gesundheitsmitarbeiter aus Ungarn und 30 Soldaten des österreichischen Bundesheeres in der Slowakei aushalfen, wertet der Schriftsteller deshalb als gelungenes Beispiel für europäische Zusammenarbeit. Nicht bei allen Slowaken kommen die Massentests aber gut an. Für den slowakischen Ärzteverband ist die 75 Millionen Euro teure Pandemie-Momentaufnahme schlicht eine Verschwendung von Ressourcen.
Dem früheren Premier Robert Fico stieß vor allem sauer auf, dass aus dem benachbarten Österreich Soldaten aushalfen - zwar ohne Munition und Waffen, aber in Uniform. Das Parlament in Bratislava genehmige "die Anwesenheit ausländischer Soldaten auf dem Territorium der Slowakischen Republik" und umgehe damit die Verfassung, kritisierte der Linksnationalist. Den Fico-Einwand wies Verfassungsrechtler Vincent Bujnak von der Comenius-Universität in Bratislava zurück. "Zum Zweck humanitärer Hilfe" erlaube die Verfassung durchaus die Anwesenheit ausländischer Streitkräfte, so Bujnak gegenüber der slowakischen Nachrichtenagentur TASR.
Im benachbarten Wien sieht man die Debatte um die rot-weiß-roten Soldaten als "innerslowakischen Konflikt" zwischen Regierung und Opposition, hieß es auf DW-Anfrage aus dem Verteidigungsministerium. "Im Kampf gegen das Virus müssen wir Schulterschluss zeigen und uns gegenseitig unterstützen, wenn Hilfe benötigt wird", verteidigte Österreichs konservative Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) die Nachbarschaftshilfe. Die Zusammenarbeit am Wochenende habe auch gut funktioniert, etwa 5500 Slowaken hätten die Bundesheer-Soldaten in einem Hörsaal der Universität und in Zelten auf einer Pferderennbahn auf COVID-19 getestet. Die Österreicher wollen auch bei der zweiten Testrunde am kommenden Wochenende wieder aushelfen.