"So fern wie Troja"
17. Juni 200350 Jahre nach dem 17. Juni 1953 ist es in Deutschland schwer geworden, den Gedenktag zu ignorieren. Das Fernsehen zeigt seit Wochen Dokumentationen, Fernsehspiele und Diskussionsrunden am laufenden Band, die Post gibt eine Sonderbriefmarke zum Aufstand vor 50 Jahren heraus - und für den 17. Juni selbst sind mehr als 500 Festveranstaltungen geplant, in allen Teilen der Republik.
Das Jubiläum hat den 17. Juni 1953 wieder ins Rampenlicht der Öffentlichkeit rücken lassen. Doch das Wissen vieler Deutscher über die Ereignisse von damals ist dürftig. Bei einer Emnid-Umfrage vor zwei Jahren wussten nur 43 Prozent der Befragten, dass am 17. Juni 1953 ein Volksaufstand in der DDR stattfand. 28 Prozent glaubten sich an den Mauerbau, die Gründung der beiden deutschen Staaten oder die Einführung der D-Mark zu erinnern – und 29 Prozent fiel zu diesem Datum gar nichts ein.
Ein vernachlässigtes Stück Geschichte
Dabei war der 17. Juni bis 1990 in West-Deutschland Nationalfeiertag. Doch mit der deutschen Einheit ist die Erinnerung an den einstigen "Tag der deutschen Einheit" verblasst. Selbst diesen Titel musste der 17. Juni mit der Wiedervereinigung an den 3. Oktober abgeben. Und so wissen insbesondere junge Deutsche mit dem Datum 17. Juni nicht mehr viel anzufangen: Nur 28 Prozent der 25- bis 29-Jährigen wussten, was sich 1953 wirklich ereignete. In der Altersgruppe zwischen 18 und 24 war es nicht einmal jeder Fünfte.
Mit historischem Desinteresse allein ist diese Bildungslücke nicht zu erklären: Wie eine Untersuchung des Frankfurter Bildungsforschers Ulrich Arnswald zeigt, taucht der 17. Juni heute an deutschen Schulen nur noch in jedem dritten Lehrplan auf. "Viele Jugendliche verlassen ihre Schule, ohne auch nur einmal vom 17. Juni gehört zu haben", beklagt Arnswald. Für die meisten Schüler sei der Aufstand von 1953 "so fern wie Troja." Auch unter den Studenten sieht es kaum anders aus: Im vergangenen Jahr ergab eine Studie der Universität Halle-Wittenberg, dass an zwei Drittel der deutschen Hochschulen nicht eine einzige Lehrveranstaltung zur DDR-Geschichte mehr angeboten wird.
Totgeschwiegen und missbraucht
Dass der 17. Juni in diesen Tagen eine Renaissance erlebt, ist nach Ansicht des Historikers Edgar Wolfrum ein "Ausdruck der Reue". Viele Deutsche in Ost und West hätten ein schlechtes Gewissen, weil sie das Ereignis lange Zeit entweder totgeschwiegen oder das Gedenken daran missbraucht hätten, sagt der Münchner Wissenschaftler. Selbst die ersten Revolutionäre von 1989, die Mitglieder der DDR-Bürgerrechtsbewegung, hätten lange Zeit ein zwiespältiges Verhältnis zu den Aufständischen von 1953 gehabt.
Marianne Birthler muss Wolfrum wohl oder übel recht geben. "Wir haben uns gegenüber den Männern und Frauen von 1953 respektlos verhalten", sagt die heutige Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes rückblickend. Ein Großteil der Bürgerrechtler sei wohl der DDR-Propaganda aufgesessen, die den Aufstand als faschistischen Putschversuch brandmarkte. Dabei hätte man allen Grund dazu gehabt, auf die Revolutionäre stolz zu sein. "Wir haben den 17. Juni von uns weggeschoben und uns damit selbst ärmer gemacht", gesteht Marianne Birthler ein. In diesem Jahr solle nun ein Stück Wiedergutmachung folgen.
Die Erinnerung verblasst
Erst in den letzten Jahren hat die Öffnung der Stasi-Archive die tatsächliche Dimension des 17. Juni offenbart: Mehr als eine Million Menschen haben flächendeckend in fast 700 Orten der DDR für Freiheit und Demokratie gekämpft. Trotzdem ist anzunehmen, dass schon bald nach den kollektiven Feierlichkeiten wieder das kollektive Vergessen einsetzen wird. Schließlich können sich nur noch wenige Deutsche aus eigener Erfahrung an den 17. Juni 1953 erinnern. Bis zum nächsten großen Gedenktag des Aufstandes dauert es zehn Jahre.