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PolitikEuropa

So leiden Ost- und Südost-Europäer unter der Inflation

Jacek Lepiarz | Cristian Stefanescu | Alexander Andreev | Despoina Tsokou
10. August 2022

Steigende Preise für Lebensmittel, Mieten, Energie - überall in Europa wird das Leben teurer. Am stärksten trifft es wie immer die Ärmsten der Gesellschaft - Angst und Verzweiflung wachsen.

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Rumänien | Gemüsemarkt in Bukarest
Die Preise steigen überall in Europa - hier ein Gemüsestand in RumänienBild: Cristian Ștefănescu/DW

Polen

Jan Smigielski betreibt in Warschau eine Bar, die bei Studenten und Touristen beliebt ist. "Die Inflation ist ein Paukenschlag", sagt der 28-jährige. "Zuerst traf uns mit voller Wucht die COVID-Pandemie und jetzt die hohe Inflation." Bis vor kurzem kam der Gastwirt über die Runden, doch jetzt fängt er langsam an, sich einzuschränken. "Ich habe gerade eine Wochenendreise nach Danzig abgesagt. Die Hotels sind einfach zu teuer geworden", erklärt er.

Der junge polnische Gastwirt Jan Smigielski in seiner Bar in Warschau vor einer Neon-Aufschrift an der Wand "Drink & Food & Smile".
Jan Smigielski in seiner Bar in WarschauBild: Jacek Lepiarz

Im Juni 2022 lag die Inflation in Polen bei 15,5 Prozent, der höchste Stand seit 25 Jahren. Nun macht sich Jan Sorgen um sein Lokal Zakasek (Vorspeise) in der Chmielna-Straße, einer eleganten Flaniermeile mit vielen Boutiquen und angesagten Kneipen. "Wir mussten innerhalb eines Jahres die Preise um zehn bis 20 Prozent erhöhen. Besonders teuer wurden Speiseöl und Fleisch", sagt er. "Die Gäste kommen zwar noch, aber man merkt, dass sie knapp bei Kasse sind und an allem sparen." 

Früher habe sich niemand um seine Sonderangebote gekümmert, jetzt bestellten die Gäste vermehrt billigere Getränke. In seiner Kasse mache sich das deutlich bemerkbar. "Am Monatsende bleibt immer weniger in der Tasche. Die Fixkosten - Stromkosten, Sozialabgaben, Miete - steigen rasant. Wir machen kaum noch Gewinn." Es sei zum Verzweifeln, so der Jungunternehmer. Trotzdem denkt er nicht ans Aufgeben. "Ich schaffe das", sagt Jan kämpferisch.

Das Rentner-Paar Barbara und Czeslaw Geszczak steht mit einem Hund auf der Holzterrasse vor seinem Haus.
Das Rentnerpaar Barbara und Czeslaw Geszczak vor seinem HäuschenBild: Jacek Lepiarz

Weniger zuversichtlich sind Barbara und Czeslaw Geszczak. Sie sind seit einigen Jahren Rentner und leben in einem selbstgebauten Einfamilienhaus in Pawlikowice, einer kleinen Gemeinde in Zentralpolen, nicht weit von Lodz. Das Ruhegehalt auf polnischem Durchschnittsniveau reichte den Geszczaks bisher für ein sorgloses Leben aus. Nun bekommen auch sie die Folgen der Rekordinflation zu spüren.

"Ich habe vor kurzem für ein Kilo Zucker zwei Zloty (0,43 Euro) bezahlt, jetzt muss ich mehr als acht Zloty (1,78 Euro) hinlegen", ärgert sich Barbara und zeigt auf verfaulte Äpfel und Pflaumen, die im Garten herumliegen. Früher hat sie solche Früchte zu Marmelade verarbeitet, doch ohne Zucker wird es in diesem Jahr keine süßen Leckereien im Herbst und Winter geben. Auch der Traum vom längst fälligen Autowechsel muss auf bessere Zeiten verschoben werden. "Die Preise für Gebrauchtwagen sind mittlerweile völlig verrückt. Das kann man nicht bezahlen", so Czeslaw bitter.

Das Rentnerpaar fühlt sich getäuscht: Erst kürzlich hat es, wie von der Regierung empfohlen, sein Heizungssystem von Kohle auf Gas umgestellt. Jetzt hat das Parlament eine Zulage von 3000 Zloty für alle Bürger beschlossen, die mit Kohle heizen. Die Besitzer von Gaspumpen hingegen gingen leer aus und blieben auf hohen Kosten sitzen. "Wir überlegen, ob wir nicht zur Kohleheizung zurückkehren sollen", sagen die Rentner. 

Grüne Plastikkiste, in der Pfirsiche und ein Handgeschriebenes Preisschild liegen, an einem Gemüsestand an der bulgarischen Schwarzmeerküste
Noch sind die Preise für Obst und Gemüse in Bulgarien bezahlbarBild: Alexander Andreev/DW

Bulgarien

Auch in Bulgarien sind die Preise gestiegen. Das Nationale Statistische Institut (NSI) hat im Juni 2022 ein 24-Jahre-Hoch von fast 17 Prozent gemessen. Betroffen sind vor allem Grundnahrungsmittel: Mehl, Zucker, Pflanzenöl. Aber auch Kaffee ist teurer geworden, wie ein Universitätsprofessor aus Sofia berichtet, der, wie die meisten Bulgaren aus der Hauptstadt, gerade Urlaub am Schwarzen Meer macht. Er spricht von einer Teuerung von mehr als 30 Prozent: "Ein Pfund Kaffee kostet jetzt 7,85 Lew (4 Euro), früher habe ich dafür 5,3 Lew (2,70 Euro) bezahlt."

Bulgarien | Gemüsestand an der Schwarzmeerküste
Galya betreibt einen beliebten Obst- und Gemüsestand am Schwarzen MeerBild: Alexander Andreev/DW

"Im Laden sind die Preise um ein Drittel gestiegen", sagt auch die 50-jährige Galya, die an der nördlichen Schwarzmeerküste einen beliebten Obst- und Gemüseladen betreibt. Sie selbst trifft es noch nicht. "Bei mir sind die Preise seit dem letzten Sommer unverändert. Meine Lieferanten verlangen auch nicht mehr", erzählt die junge Oma, die sich neben der Arbeit in ihrem Laden auch um ihren sechsjährigen Enkel kümmert. "Nur die Himbeeren und die Brombeeren sind ein bisschen teurer geworden, denn die Pflücker verlangen in diesem Jahr einen Tageslohn von umgerechnet 25 bis 30 Euro."

Steigende Löhne und Gehälter machen sich auch im Tourismus bemerkbar. In den Restaurants und Hotels an der Schwarzmeerküste Bulgariens, die auch Besucher aus dem Ausland anzieht, sind die Preise deutlich gestiegen, was auch zueinem Rückgang des Tourismus beigetragen hat. "Die Köche wollen die Kochschürze gar nicht mehr umbinden, falls ihnen weniger als 98 Lew (50 Euro) Tageslohn angeboten wird. Im letzten Jahr haben sie im Restaurant unten am Strand nur die Hälfte davon verdient."

Blick aus einem Hotelzimmer in Goldstrand nahe Warna (Bulgarien) auf einen Balkon mit zwei Stühlen und einen kleinen runden Tisch und das sich hinter der Brüstung bis zum Horizont erstreckende blaue Wasser des schwarzen Meers.
Die bulgarische Schwarzmeerküste ist beliebt - die Preise steigen auch hierBild: Alexandar Detev/DW

Nach Ansicht der resoluten Obst- und Gemüseverkäuferin ist der Preisanstieg künstlich erzeugt - von gierigen Zwischenhändlern. Auch Gewerkschaftsvertreter sprechen von Preismanipulationen. Der Wirtschaftsfachmann und Ex-Abgeordnete Georgi Ganev ist dagegen zuversichtlich, dass die Inflationsblase bald platzen wird. Zur Zeit werde das im Umlauf befindliche überflüssige Geld ausgegeben und bald würden die Händler gezwungen sein, die Preise zu senken.

Trotzdem aber sind Inflationsängste in Bulgarien sehr verbreitet. Selbst Staatspräsident Rumen Radew sprach das Thema bei der Vereidigung der Übergangsregierung am 2. August 2022 an. Die Inflation und die Energiepreise seien die wichtigsten Herausforderungen für das Kabinett, erklärte er.

Das Leben wird teurer

Griechenland

Athen wirkt im August wie ausgestorben. In den heißen Sommermonaten fahren die Einwohner in ihre Herkunftsdörfer oder auf die griechischen Inseln, die als Tourismusdestination vor einem Rekordjahr stehen. "Nach zwei Jahren Pandemie freuen wir uns natürlich über die Tourismuswelle", sagt Napoleon, der als Taxifahrer in der griechischen Hauptstadt arbeitet und trotz der Hitze geblieben ist. "Uns beschäftigt aber zurzeit vor allem die Teuerungswelle", fügt der 51-Jährige hinzu. Zum ersten Mal seit 28 Jahren ist die Inflationsrate zweistellig. Im Juli erreichte sie 11,6 Prozent. 

Für die Griechen, die im Durchschnitt 926 Euro Netto im Monat verdienen, haben sich insbesondere der Lebensmitteleinkauf, die Strompreise und das Tanken zum Alptraum entwickelt. "Um Kraftstoff zu sparen benutzen viele Taxi-Fahrer mitten im Hochsommer die Klimaanlage nicht", berichtet Napoleon und verweist auf den Benzinpreis, der in der ersten August-Woche bei 2,1 Euro pro Liter lag. Fahrer, die im vergangenen Jahr weniger als 30.000 Euro verdient haben, wurden von der griechischen Regierung bisher mit zwei Benzin-Zuschlägen unterstützt. "Ich habe 200 Euro erhalten und mich gefreut. Trotzdem muss ich 12 bis 13 Stunden pro Tag arbeiten, und es reicht noch immer nicht für den Einkauf im Supermarkt", sagt Napoleon.

Der Landwirt Nikos steht auf dem Wochenmarkt in Athen hinter seinem Stand, auf dem er Salat und Gemüse aufgeschichtet hat.
Landwirt Nikos verkauft auf einem Athener Wochenmarkt seine ErzeugnisseBild: Despoina Tsokou/DW

Nikos steht vor seinem Gemüsestand auf einem Athener Wochenmarkt und schüttelt den Kopf. Der gelernte Volkswirt, der in der Finanzkrise 2010 Bauer wurde, findet, dass der Staat mehr für die landwirtschaftliche Produktion tun sollte. "Die Preise für Düngemittel, Pestizide und Öl sind um 30 Prozent gestiegen. Wir Landwirte versuchen, soweit es geht, die hohen Produktionskosten zu absorbieren, weil die Verbraucher sonst einfach nicht zurechtkommen. Trotzdem mussten wir unsere Preise steigern", berichtet der 42-Jährige. Im Vergleich zum Vorjahr sind die Lebensmittelpreise in Griechenland im Juli 2022 um 13 Prozent gestiegen. "Die Kunden schauen sich minutenlang die Preise an und überlegen, was sie sich leisten können", sagt Nikos.

Gurken und Auberginen liegen aufgeschichtet an einem Gemüsestand auf einem Wochenmarkt in der griechischen Hauptstadt Athen
Alles wird teurer in Griechenland, auch das lokal erzeugte GemüseBild: Despoina Tsokou/DW

So wie der 76-jährige Antonis, der neben dem Gemüsestand steht. Er wirkt mutlos und traurig. "Tomaten für zwei Euro pro Kilo, wie kann das sein?", flüstert der Rentner, der mehr als 50 Jahre als Klempner gearbeitet hat. Er erzählt, dass er es nur einmal pro Monat wagt, in den Supermarkt zu gehen. Er uns seine Frau, die krank im Bett liegt, sind oft auf die Hilfe der Kirche angewiesen. "Meine Rente beträgt 700 Euro. In den ersten 15 Tagen des Monats ist das meiste Geld aufgebraucht. Ich schaffe es dann einfach nicht, genügend Lebensmittel einzukaufen. Wie auch?"

Rumänien

In Rumänien lag die Inflation im Juni 2022 bei 15 Prozent. Besonders bemerkbar macht sich die Preissteigerung im Energiesektor.

Bis zum 1. Januar 2021 zahlten alle rund sechs Millionen privaten Haushalte den gleichen Preis, der vom Staat mit den Energieanbietern ausgehandelt wurde. Doch dann wurde der Markt liberalisiert. Jetzt gibt es mehr als 100 Anbieter, doch die Konkurrenz hat nicht zu einer Senkung der Preise geführt. Im Gegenteil: Energie ist zwischen August 2020 und August 2021 um 25 Prozent teurer geworden. Und durch den Krieg in der Ukraine und die Sanktionen gegen Russland steigen die Preise in diesem Jahr weiter.

Das trifft vor allem Rentner, die von ihren kleinen Einkommen nicht mehr leben können. Zum Beispiel Daniel B., der früher Ingenieur war. Er lebt in einer Kleinstadt im Westen Rumäniens, in der 300 Jahre lang die meisten Wohnungen mit Kohle oder Holz geheizt wurden. Vor einem Jahr hat er seine Holzöfen gegen eine moderne elektrische Heizung ausgewechselt. Doch seither sind die Stromkosten um das Vierfache gestiegen. Daniel hätte mehr als ein Drittel seiner Rente für Strom ausgeben müssen. Doch er konnte einen billigeren Anbieter finden und seine Kosten etwas senken. Er kann sich nicht erklären, wie ein Land mit eigenen Energie-Ressourcen trotzdem einen der höchsten Tarife in Europa haben kann.

Ein alter Mann schiebt einen Handkarren durch die Straßen von Bukarest
In Rumänien leiden die Menschen vor allem unter den hohen EnergiekostenBild: Cristian Stefanescu/DW

In der Tat hat Rumänien zwar eigene Gasvorkommen und ist damit eines der EU-Länder mit der geringsten Abhängigkeit von Energie-Importen - aber die Strom- und Gaspreise gehören dennoch zu den höchsten in der EU. Am 27. Juli 2022, kostete ein Megawatt Strom in Rumänien umgerechnet 516 Euro - im Vergleich zu 235 Euro in Polen oder 83 Euro in Finnland.

"In den vergangenen Jahren wurden keine Lizenzen zur Gasförderung mehr vergeben, und man investierte nicht mehr in die Energiekapazitäten", erklärt Cosmin Pacuraru, Berater im Bereich Energiesicherheit. Sein Urteil fällt hart aus: "Auf der Ebene der politischen Entscheidungen fehlen die Profis. Und das Energie-System ist voll von nutzlosen Firmen, Erfindungen von Politikern, die damit ihre politische Klientel mit gut bezahlten Stellen belohnen, obwohl sie keine Erfahrung im Energie-Bereich hat."

An einem Käsestand auf dem Obor-Markt in Bukarest liegen verschiedene Käsesorten aufgestapelt in der Auslage eines Verkaufstands
Käsestand auf dem Obor-Markt in Bukarest im August 2022Bild: Cristian Ștefănescu/DW

Der Strom ist teurer geworden, das Benzin ebenso - aber auch viele Lebensmittel, zum Beispiel der beliebte Käse. Auf dem Markt im Zentrum von Bukarest verkauft Aurora Käse und Wurstprodukte aus traditioneller Herstellung. "Seit ein paar Wochen verkaufen wir weniger. Vielleicht liegt es daran, dass die jungen Leute im Urlaub sind. Aber die Rentner sind in der Stadt geblieben - und die denken zweimal nach, bevor sie etwas kaufen, seit alles teurer geworden ist", sagt Aurora.

Porträt eines Mannes mit grauem Haar vor einem Regal mit Büchern
Jacek Lepiarz Journalist in der polnischen Redaktion mit Schwerpunkt auf deutsch-polnischen Themen.
Portrait eines Mannes mit grau-schwarz meliertem Haar, der eine Brille trägt
Alexander Andreev Redakteur, Autor, Reporter@al_andreev
Despoina Tsokou Korrespondentin in Griechenland