So will Deutschland Wohnungslosigkeit beenden
13. Mai 2024Gut zwei Jahrzehnte lang war Dirk Dymarski wohnungslos. Er lebte zeitweise in Notunterkünften und auch auf der Straße. Das sei etwas, das er nicht so leicht abschütteln könne. Allerdings habe es auch sein Denken verändert.
"20 Jahre Wohnungsloser gewesen zu sein, war mir eine Lehre in jeglicher Hinsicht, denn ich habe früher leider selber Wohnungslose diskriminiert und stigmatisiert", sagt er der DW. "Aber in den letzten Jahren hatte ich selber kapiert: Jeder kann schnell in eine solche Situation geraten, und es ist schwierig wieder da raus zu kommen."
Dymarski ist jetzt Mitglied der Freistätter Online Zeitung, einer Lokalzeitung, die von der Stiftung Bethel von und für Wohnungslose in dem kleinen Städtchen Freistatt in Niedersachsen betrieben wird. Dymarski gehört auch der Selbstvertretung Wohnungloser Menschenan, einer Organisation, die wohnungslosen Menschen in Deutschland eine Stimme geben möchte.
Um ein neues Zuhause zu finden, müsse man erstmal das Stigma des Wohnungslosen überwinden, sagt Dymarski. "Die erste Frage, die einem gestellt wird, ist: Wo wohnen Sie denn zur Zeit? Und wenn du dann einem Vermieter sagst, du wohnst in einer stationären Einrichtung, dann fällt man ziemlich schnell durchs Raster."
Das Ende der Wohnungslosigkeit?
Aufgrund des Mangels an bezahlbarem Wohnraum, ist Wohnungslosigkeit in den vergangenen Jahren gestiegen. Genaue Zahlen sind schwer zu ermitteln, die Bundesregierung geht aber von etwa 375.000 Betroffenen in Deutschland aus.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG-W) geht eher von 600.000 Menschen aus, wobei etwa 50.000 auf der Straße leben sollen. Diese Zahlen schließen all jene ein, die entweder keinen Mietvertrag oder kein eigenes Zuhause besitzen.
Es gibt eine Unterbringungspflicht für deutsche Behörden, obdachlose Menschen müssen also in Notunterkünften Zuflucht finden können. Allerdings entscheiden sich viele Menschen gegen eine solche Unterkunft, weil diese häufig weder Sicherheit noch Privatsphäre bietet.
Um das Problem zu bekämpfen, hat die Bundesregierung Ende April einen "Nationalen Aktionsplan" beschlossen, um die - wie sie es nennt - "Mammutaufgabe" der Beendigung der Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit im Land bis 2030 anzugehen. Es ist das erste Mal, dass eine deutsche Bundesregierung ein solches Dokument erstellt.
Der 31-Punkte-Plan, der vom Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen veröffentlicht wurde, enthält Ideen wie die Bereitstellung von Geldern für die Bundesländer zum Bau von Sozialwohnungen, die Bekämpfung von Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt, die Unterstützung der Menschen beim Zugang zu einer Krankenversicherung und die Verbesserung des Zugangs zu Beratungsdiensten.
"Mehr bezahlbare Wohnungen sind der Kernpunkt für die Bekämpfung von Wohnungslosigkeit", sagt Bauministerin Klara Geywitz. "Dass es diesen bundesweiten Handlungsleitfaden gibt, war ein expliziter Wunsch der Zivilgesellschaft, der vielen Menschen, die sich um obdach- und wohnungslose Menschen kümmern."
"Auf der Straße leben, ist wie Krieg"
Einige Organisationen, die sich um Wohnungslose kümmern, wurden zuvor beratend befragt. Und der Aktionsplan, sagen sie, sei vielsprechend – allerdings nur als ein erster Schritt.
Dymarski und seine Kollegen und Kolleginnen loben Bundesministerin Geywitz und ihr respektvolles Auftreten in Gesprächen mit ihnen. Allerdings sei der Plan, wie er nun veröffentlicht wurde, zu vage und nicht ausgereift.
Andere Organisationen stimmen dem zu. "Aktionsplan klingt ein bisschen wie: Jetzt geht's aber los, und jetzt kommen wir in die Aktion. Aber ich frage mich, ob das nicht eher ein Positionspapier ist", sagt Corinna Müncho, Direktorin des "Housing First" Projekts in Berlin. "Denn diejenigen, die das umsetzen müssen, nämlich die Länder und die Kommunen, wissen trotz Plan nicht, wie sie's tun sollen."
Die "Housing First" Initiative hilft Menschen dabei, eine Wohnung zu finden – ohne Vorbedingungen. Denn das Projekt geht von der Prämisse aus, dass Wohnen schlicht ein Grundrecht sei.
Müncho ist sich bewusst, wie schwer das Leben für Menschen auf der Straße ist: "Mir hat mal ein Klient gesagt: Auf der Straße leben ist wie Krieg", sagt sie der DW.
"Das hängt damit zusammen, dass sie völlig schutzlos sind, im Grunde genommen immer in so einem Aufpassmodus sind, keinen privaten Raum haben, keinen Raum, wo sie Intimität leben können. Das, was man an primären Bedürfnissen hat, wird permanent nicht bedient. Und das macht was mit der Psyche."
Bezahlbarer Wohnraum fehlt
Wohltätigkeitsorganisationen hätten schon lange einen solchen Aktionsplan verlangt, sagt Lars Schäfer, Referent für Wohnungsnotfallhilfe bei der Diakonie Deutschland der DW. "Das ist erstmal positiv, dass sich die Politik überhaupt dieses Themas annimmt. Denn so können wir die Politik immer wieder daran erinnern, was sie hier als Ziele formuliert hat."
Allerdings sagt er auch, die 31 Punkte seien lediglich eine "Sammlung von bereits vorher bestehenden Maßnahmen, und einigen wenigen neuen, die aber weder große gesetzliche Veränderungen mit sich bringen, noch Geld kosten — und das sind natürlich die beiden entscheidenden Stellschrauben."
Ein Beispiel dafür ist Punkt Nummer eins: Eine Zusage über 18,15 Milliarden Euro, die der Bund den Ländern für den sozialen Wohnungsbau für den Zeitraum 2022 bis 2027 geben will.
Mietpreiskontrollierte Wohnungen werden dringend benötigt, aber dieser Fonds wurde bereits vor zwei Jahren angekündigt - und die Bundesregierung musste vergangenes Jahr zugeben, dass im Jahr 2022 nur 22.545 neue Wohnungen zur Verfügung gestellt wurden. Das Ziel war, 100.000 Wohnungen pro Jahr.
"Da denke ich mir: Ja, reinschreiben kann man das, allerdings nützt es wenig, denn das, was gemacht wird, und auch gut ist, führt in der Gesamtstrategie nicht dazu, dass die Wohnungs- oder Obdachlosenzahlen sinken", sagt Müncho.
Viel Geld, schlecht verteilt
Schäfer ist der Meinung, dass es konkrete Maßnahmen gäbe, die Verantwortliche ergreifen könnten, vor denen der Aktionsplan aber zurückschrecke: So könnten beispielsweise Vorurteile von Vermietern umgangen werden, wenn die Kommunen Quoten für Obdachlose in neuen Sozialwohnungen festlegen würden.
Oder die Bundesregierung könnte festlegen, dass ein bestimmter Anteil der Gelder, die den Ländern für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung gestellt werden, für die Unterbringung von Obdachlosen verwendet werden müsse.
Es gehe nicht nur darum, mehr Geld auszugeben, sagt Müncho, es gehe um eine bessere Verteilung. "Das Geld ist da – wir geben ganz viel Geld aus für niedrigschwellige Einrichtungen. Auch die ordnungsrechtlichen Unterkünfte kosten unglaublich viel Geld für ganz, ganz schlechte Standards. Wir reden von Tagessätzen: Da kommt man für eine Person im Monat in Berlin auf 1000 Euro. So viel sollte keine Wohnung kosten in Berlin."
Nach Angaben von Wohlfahrtsverbänden ist die Lage auf dem Wohnungsmarkt derzeit so verzweifelt, dass viele Menschen jahrelang in Massenunterkünften festsitzen. Der neue Plan der Bundesregierung ist ein Versuch, dem entgegenzuwirken. Für die Aktivisten ist er kaum mehr als eine Absichtserklärung.