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TerrorismusDeutschland

Solingen: Radikalisierung durch Social Media?

29. August 2024

Der Verfassungsschutz spricht von "TikTokisierung des Islamismus". Werden die sozialen Medien als Vorbild für Angriffe wie die Messerattacke von Solingen genutzt?

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Auf dem Bildschirm eines Notebooks läuft ein Propaganda-Video der Terror-Organisation "Islamischer Staat" (IS), im dem vermummte Kämpfer zu sehen sind, die schwarz-weiße IS-Fahnen schwenken.
Die Terror-Organisation "Islamischer Staat" (IS) ist auf Social-Media-Kanälen wie "TikTok" und "Telegram" sehr aktivBild: Andreas Arnold/dpa/picture alliance

Issa Al H., der mutmaßliche Attentäter von Solingen, passt perfekt zur wichtigsten Zielgruppe der Terror-Organisation "Islamischer Staat" (IS) und anderer extremistischer Gruppen wie "Muslim Interaktiv": männlich, muslimisch, jung. Solche Islamisten umgarnen junge Männer wie Issa Al H. auf Social-Media-Kanälen wie "TikTok" oder "Telegram"gezielt, um sie für ihre oft tödliche Ideologie zu gewinnen. Zum Feindbild gehört jede Form von Demokratie, in der politische und gesellschaftliche Freiheiten wie die Gleichberechtigung von Frau und Mann garantiert sind.  

Wer sich dafür einsetzt und so lebt, wo auch immer auf der Welt, gilt als ungläubig und darf, nach der Logik des IS, überall getötet werden. Dafür werden nach Erkenntnissen von Sicherheitsbehörden und Terrorismus-Experten mehr denn je im Internet sogenannte Gotteskrieger rekrutiert: Einzeltäter, die wie bei der Messerattacke in Solingen, mit einfachsten Mitteln Menschen ermorden.

Der Attentäter von Solingen könnte ein IS-"Soldat" sein

Der IS reklamiert das Attentat für sich. Ob Al H. als sogenannter "Soldat" im Auftrag der Terror-Gruppe gehandelt hat, ist noch nicht abschließend geklärt. Vieles deutet darauf hin, dass der aus Syrien stammende abgelehnte Asylbewerber sich im Internet radikalisiert hat. Auf jeden Fall entspricht er dem Profil solcher Attentäter.  

Der mutmaßliche Attentäter von Solingen, Issa Al H., wird in gebeugter Körperhaltung von Sicherheitsbeamten abgeführt.
Der mutmaßliche Attentäter von Solingen, Issa Al H., wurde in Untersuchungshaft genommen Bild: Heiko Becker/REUTERS

Thomas Mücke vom "Violence Prevention Network" (VPN) in Berlin ist dieser Typus durch seine tägliche Arbeit bekannt. Und welche Rolle soziale Medien bei der Radikalisierung spielen, weiß er sehr genau: Es gebe eine ganze Menge von Propaganda-Filmen für alle möglichen Altersgruppen, um Kinder und Jugendliche für die Szene zu begeistern. "Man versucht die Emotionen der jungen Menschen anzusprechen, ein Wir-Gefühl herzustellen", sagt Mücke im DW-Interview.

Video-Clips mit einer simplen Botschaft: "Du gehörst zu uns!"

All das sei nicht neu, verstärkt sich aber nach seinen Beobachtungen. Es werde eine Identität angeboten und versucht, junge Menschen mit einfachen Botschaften von der Gesellschaft zu entfremden: "Du gehörst zu uns, wenn Du Dich nach den Regeln des wahren Islam verhältst." In Videos sei von einer kollektiven Opfer-Rolle die Rede: "Muslime werden weltweit verfolgt, Ihr müsst Euch dagegen wehren!"

Diese Art der Propaganda verfängt nach Mückes Beobachtungen mehr denn je seit Beginn des Gaza-Kriegs nach dem Terror-Überfall der islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. "Da bekommen wir sehr deutlich mit, dass die extremistische Szene den Palästina-Konflikt als Mobilisierungsthema benutzt, instrumentalisiert, um für ihre politische Ideologie werben zu können."

Thomas Mücke: "Man versucht die Emotionen der jungen Menschen anzusprechen"

Messerattacke als "Rache für das, was in Palästina passiert"

Der Terror-Anschlag in Solingen sei furchtbar und erschreckend, aber leider auch nicht überraschend, sagt der Experte für Prävention und Deradikalisierung in extremistischen Milieus. "Wenn wir jetzt auf den Anschlag in Solingen schauen: Der IS hat es tituliert als Rache für das, was in Palästina passiert. Der Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt ist mehr als offensichtlich."

Das Internet als Brandbeschleuniger, in dem sogenannte Hassprediger Attentate heraufbeschwören? Für den Terror-Experten Hans-Jakob Schindler besteht daran kein Zweifel: "Es werden ganz gezielt Leute angesprochen, die sich in Chat-Gruppen aufhalten, in denen solche Prediger auch zu Gange sind und die dann von diesen offenen Chat-Gruppen in geschlossene Chat-Gruppen zur weiteren Radikalisierung wechseln", sagte der Leiter des internationalen Counter Extremism Project (CEP) im ZDF. 

Sicherheitsbehörden verlangen mehr Befugnisse

Deshalb sei die Beobachtung ein Kernstück zur Früherkennung in der Terrorismusbekämpfung, betont Schindler. Doch deutsche Sicherheitsbehörden beklagen immer wieder, zu wenig Befugnisse dafür zu haben. Für unverzichtbar halten sie eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung der kompletten elektronischen Kommunikation. Dafür müsste jede einzelne IP-Adresse (Internet-Protokoll) erfasst werden. Das ist bislang nicht möglich, weil sich die Bundesregierung nicht darauf einigen kann. 

Ein Smartphone und der Bildschirm eines Notebooks mit endlosen Zahlen-Kolonnen symbolisieren die umstrittene Vorratsdatenspeicherung, bei der die gesamte elektronische Kommunikation aufgezeichnet wird.
Bei der Vorratsdatenspeicherung wird die gesamte Kommunikation mit Smartphones und Computern überwacht Bild: Nikolas Kokovlis/NurPhoto/IMAGO

Die für Polizei und Verfassungsschutz zuständige deutsche Innenministerin Nancy Faeser von den Sozialdemokraten (SPD) befürwortet die Forderung. Justizminister Marco Buschmann von den Freien Demokraten (FDP) hingegen hält eine zeitlich befristete Datenspeicherung von verdächtigen Personen, das sogenannte Quick-Freeze-Verfahren, für ausreichend.    

Verfassungsschutz und Polizei wussten nichts

Ob die Messerattacke von Solingen mit Hilfe der Vorratsdatenspeicherung zu verhindern gewesen wäre, ist unter Fachleuten umstritten. Fest steht: Der mutmaßliche Attentäter war weder im Visier der Polizei noch in die des Verfassungsschutzes. Die bisherigen Erkenntnisse lassen vermuten, dass sich Al H. als Einzeltäter im Netz radikalisiert hat. 

Solche Menschen daran zu hindern, ihre mörderischen Pläne in die Tat umzusetzen, hält Thomas Mücke vom "Violence Prevention Network" für fast unmöglich: "Wenn es gar kein Frühwarnzeichen gibt, keinen Hinweis und auch die Polizei keine Erkenntnisse hat, dann wird es natürlich sehr schwierig, so etwas zu verhindern."

Deradikalisierung durch Dialog

Antiterror-Kampf mit Online-Durchsuchung und Quellen-TKÜ

Trotzdem gelingt es den Sicherheitsbehörden immer wieder, geplante Anschläge zu verhindern. Manchmal erhalten sie Tipps von ausländischen Geheimdiensten. Oder sie belauschen Verdächtige im Rahmen der heimlichen Online-Durchsuchung. Mit Hilfe der sogenannten Quellen-Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) dürfen sogar Gespräche live abgehört und Nachrichten in Messenger-Diensten mitgelesen werden. Allerdings nur per richterlichem Beschluss. 

Um Radikalisierung im Internet einzudämmen, werden immer wieder Social-Media-Kanäle extremistischer Gruppen gelöscht. "Diese Maßnahmen kön­nen die Verbreitung jihadistischer Inhalte zwar nicht verhindern, erschweren diese jedoch", heißt es dazu im aktuellen Verfassungsschutz-Bericht. Sicherheitsbehörden haben für Video-Clips, in denen auch Gewalt verherrlicht wird, inzwischen eine schnell verständliche Formulierung kreiert: "TikTokisierung des Islamismus".       

 

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland