Die Hölle: Sowjetische Speziallager
29. August 2020Karl-Wilhelm Wichmann war Student am Pädagogischen Institut in Greifswald (Mecklenburg-Vorpommern). Er wollte Lehrer werden. In einem Vortrag über die Zukunft des deutschen Volkes nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg sagte er ein paar Dinge, die ihm zum Verhängnis wurden.
Der damals 18-Jährige sprach sich unter anderem gegen die Bodenreform nach sowjetischem Vorbild aus. Irgendjemand muss ihn danach denunziert haben. Der junge Mann wurde von einem sowjetischen Militärtribunal angeklagt – der Vorwurf: anti-sowjetische Propaganda. Das Urteil: zehn Jahre Haft.
Wichmann landete im Speziallager Torgau (Sachsen). "Wir hatten keinen Freigang, saßen zu dritt in den Zellen, hatten wenig zu essen und mussten sehen, wie wir unsere Zeit verbrachten", schildert der inzwischen 92-Jährige im DW-Gespräch sein Schicksal.
Torgau gehörte zu den zehn Speziallagern, die zwischen 1945 und 1950 von der Besatzungsmacht Sowjetunion in Ostdeutschland betrieben wurden. Auch die westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs unterhielten Internierungslager für hochrangige Nationalsozialisten und Kriegsverbrecher. Sie sollten für ihre Schandtaten zur Verantwortung gezogen werden. Darauf hatten sich die USA und Großbritannien mit der Sowjetunion verständigt.
Stalin wollte seine Diktatur auf deutschem Boden absichern
Doch der brutale Machthaber in Moskau, Josef Stalin, und seine Geheimdienste hatten von Anfang an auch etwas anderes im Sinn: Sie wollten jeden Protest und Widerstand gegen die Errichtung einer kommunistischen Diktatur auf dem Boden der späteren DDR im Keim ersticken. Deshalb landeten auch viele Tausend Mitläufer und Unschuldige in den sowjetischen Speziallagern.
So zynisch es klingen mag, aber der Häftling Wichmann hat sogar noch Glück gehabt. Denn rund ein Drittel der nach neuesten Schätzungen etwa 176.000 Inhaftierten überlebte die Torturen nicht.
"Die sind verhungert, die sind an Mangelkrankheiten wie TBC oder Ruhr zugrunde gegangen", sagt Anna Kaminsky im DW-Interview. Die Direktorin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hat schon früh nach der friedlichen Revolution in der DDR 1989/90 zu den Speziallagern geforscht.
Ihre und die Erkenntnisse anderer Wissenschaftler decken sich mit dem, was der unschuldig verurteilte Karl-Wilhelm Wichmann an Leib und Seele erleiden musste. Bis 1950 saß er als Opfer der Sowjets in den Speziallagern Torgau und Sachsenhausen ein. Anschließend kam er wieder nach Torgau – dann als Häftling der inzwischen gegründeten DDR.
In der DDR-Propaganda waren alle Häftlinge Nazis
Nach seiner Entlassung 1954 durfte er über all das – zumindest öffentlich – kein Wort verlieren: "Ich sollte nicht darüber sprechen, hat man mir ernsthaft aufgetragen." Mit ein paar Vertrauten, darunter seine Frau, hat er trotzdem über sein Schicksal geredet.
Ansonsten war er gut beraten, zu schweigen. Denn alle Häftlinge wurden in der offiziellen DDR-Propaganda als Nazis stigmatisiert, auch wenn etwa ein Fünftel gar keine gewesen waren. Wer daran vernehmbar zweifelte oder über die Zustände in den Lagern berichtete, machte sich der "Hetze" und "Verleumdung" schuldig.
Zeitgenössische Fotos von den katastrophalen Zuständen hinter den Zäunen und Mauern der Speziallager sind keine bekannt. Was sich dort abspielte, haben aber manche Häftlinge heimlich mit ihren Bildern und Skizzen dokumentiert.
Dazu gehören die für diesen Artikel verwendeten Zeichnungen. Sie stammen von Detlev Putzar und Wilhelm Sprick. Als Teenager wurden sie 1945 unter fadenscheinigen Vorwürfen zu hohen Haftstrafen verurteilt, die sie in mehreren Speziallagern verbringen mussten. Darunter war das ursprünglich von den Nazis errichtete Muster-KZ Sachsenhausen nördlich von Berlin.
Unzulässige Gleichsetzung
Dort wurden nach dem Untergang der DDR Massengräber mit 7000 Toten entdeckt. Die Leichen stammten aber nicht aus dem KZ, sondern aus dem kurz danach am selben Ort eingerichteten Speziallager. Wegen solcher Funde, vor allem aber wegen der auch sonst sehr hohen, von den Sowjets zu verantwortenden Todesrate sehen manche keinen Unterschied zu den KZs der Nazis. Eine unzulässige Gleichsetzung, findet nicht nur die Direktorin der Bundesstiftung Aufarbeitung, Anna Kaminsky.
Gerade an einem Ort wie Sachsenhausen mit einer zweifachen Vergangenheit sei es besonders wichtig, "die unterschiedlichen Lagerphasen, ihre historischen Kontexte und die Intentionen der Betreiber differenziert und wissenschaftlich fundiert darzustellen". Sagt Axel Drecoll, Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, der Deutschen Welle. "Ein gravierender Unterschied bestand etwa im gezielten Massenmord, der ein Spezifikum des KZ-Terrors war." Klar sei aber auch, dass im sowjetischen Speziallager tausende Menschen an Hunger und Krankheiten gestorben seien.
Um dem unterschiedlichen Charakter der Lager gerecht zu werden, wird in Sachsenhausen grundsätzlich getrennt und an jeweils spezifischen Orten an die Opfer erinnert. Darauf legt Drecoll großen Wert.
Ex-Häftling Wichmann vergibt seinen Peinigern
Am Sonntag findet das Gedenken an das sowjetische Speziallager statt. Auch der ehemalige Häftling Karl-Wilhelm Wichmann hat die Gedenkstätte besucht. Dass er zu Unrecht verurteilt wurde, hat ihm der russische Generalstaatsanwalt schon Anfang der 1990er Jahre bestätigt. Damals wurde er offiziell rehabilitiert, nachdem die Akten aus Sowjetzeiten geöffnet worden waren.
"Ich hege keinen Hass", sagt Wichmann heute – trotz allem. Er habe sich als jemand betrachtet, "der für die Verbrechen der Nazi-Zeit gebüßt hat". Als 16-jähriger Luftwaffenhelfer wurde er verwundet. "Ich habe die Grauen des Krieges erlebt – und auch danach eine schreckliche Zeit." Mit der Erinnerung an die Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten und an sein persönliches Schicksal in sowjetischen Speziallagern verbindet Karl-Wilhelm Wichmann einen Wunsch: "Ich möchte, dass unseren Enkeln und Urenkeln so etwas nie widerfährt."