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Update für den deutschen Sozialstaat

2. März 2022

Die Menschen werden älter, das Leben digitaler, die Wirtschaft soll klimagerechter werden. Kann der Staat für sozialen Ausgleich sorgen? Im Sozialatlas zieht die Heinrich-Böll-Stiftung eine Zwischenbilanz.

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Blick in eine deutsche Fußgängerzone, in der viele Menschen zwischen den Ladenlokalen auf beiden Seiten unterwegs sind
Bild: Stefan Sauer/dpa/picture alliance

Wer in wirtschaftliche Not gerät, weil er alt oder krank ist, sehr wenig verdient oder arbeitslos geworden ist, soll unterstützt werden: Sozialleistungen sind keine Almosen, sondern gesetzlich geregelt als Teil der sozialen Marktwirtschaft, des Sozialstaats. Deutschland gibt rund 30 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Sozialausgaben aus, vor der Corona-Pandemie waren es fast  sechs Prozentpunkte mehr als der Durchschnitt der OECD-Staaten.

Der deutsche Sozialstaat biete in vielen Lebenslagen Sicherheit, sagt Ellen Ueberschär der DW: Jeder habe Ansprüche auf Sozialleistungen, die das Existenzminimum sichern. Es gebe aber "enormen Erneuerungsbedarf". Die Grundregeln stammen aus den 1950er Jahren.

Eine Frau mit langen dunklen Haaren in einer blauen Bluse schaut ernst in die Kamera
"In einer sozialen Marktwirtschaft müssen die Stärkeren mehr beitragen zum Gemeinwohl als die Schwächeren", sagt Ellen Ueberschär, Vorstand der Heinrich-Böll-StiftungBild: Stephan Röhl

Ueberschär ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, die zum ersten Mal einen knapp 60-seitigen Sozialatlas herausgegeben hat. Untertitel: "Daten und Fakten über das, was unsere Gesellschaft zusammenhält". Die Böll-Stiftung steht der Partei Bündnis 90/Die Grünen nahe.

Reiche leben länger

Der Sozialstaat soll neben der Existenzsicherung für sozialen Ausgleich sorgen, Teilhabe und Zusammenhalt in der Demokratie stärken. In Deutschland werden 40 Prozent der Ungleichheit durch den Sozialstaat ausgeglichen, sagt Ellen Ueberschär, das sei im internationalen Vergleich viel, müsse aber gesichert und verbessert werden.

Leben ohne Zuhause

Absolute Armut, wo das Nötigste zum Leben fehlt, ist in Deutschland die Ausnahme, stellt der Sozialatlas fest, aber es gibt relative Armut, eine Kluft zwischen Arm und Reich, bei Einkommen, aber besonders bei Vermögen. Die reichsten zehn Prozent der Haushalte verfügen über 56,1 Prozent des Nettogesamtvermögens, die ärmere Hälfte der Bevölkerung nur über 1,3 Prozent.

Die Ungleichheit bei den Einkommen wirkt sich auf die Lebenserwartung der Menschen aus, das zeigt im Sozialatlas der Rückblick auf die Statistik der Verstorbenen. Frauen mit einem hohen Einkommen lebten demnach mehr als vier Jahre länger als diejenigen in der untersten Stufe. Bei Männern zeigt die Statistik sogar einen Unterschied von über acht Jahren.

Infografik Sozialatlas 2022 Beziehung von Lebenserwartung und Einkommen DE (Sperrfrist)

Armutsrisiko für Alleinerziehende - "ein Skandal"

Sozialleistungen werden einerseits aus Beiträgen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer in die Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung und andererseits aus Steuermitteln finanziert. Steuerfinanziert sind sogenannte Sozialtransfers: staatliche Zahlungen wie die Grundsicherung für Arbeitssuchende, Sozialhilfe, Wohngeld, Kinder- und Elterngeld oder Ausgaben für die Jugendhilfe. Das komplexe System wird geregelt durch zwölf Sozialgesetzbücher und viele weitere Gesetze.

Das macht es kompliziert für die Berechtigten. Eine alleinerziehende Mutter etwa, die in der Corona-Pandemie ihren Arbeitsplatz verloren hat, muss Anträge an viele Stellen richten: Arbeitsagentur und Jobcenter, Jugendamt und Familienkasse der Bundesagentur für Arbeit.

Eine faire Chance für Kinder

Das Armutsrisiko bei Alleinerziehenden und ihren Kindern ist besonders groß. "Das ist ein Skandal", kritisiert Ueberschär. Junge Menschen seien das wichtigste Kapital für den Sozialstaat und müssten optimal gefördert werden. Die Benachteiligung bei der Bildung müsse abgebaut werden - ohne bürokratische Hürden. Der Sozialatlas schlägt vor, neben der klassischen Ehe und Familie einen neuen "Pakt für das Zusammenleben" zu fördern, den zwei Erwachsene unabhängig von einer Beziehung miteinander eingehen.

Demografischer Wandel: Rente, Pflege, Arbeitskräfte

Deutschland gehört in Europa zu den Ländern mit einer besonders alten Bevölkerung. 100 Menschen zwischen 15 und 64 Jahren stehen laut Statistik knapp 34 Ältere ab 65 Jahren gegenüber - immer weniger Junge müssen die Rente für immer mehr Alte finanzieren.

Der Sozialatlas stellt fest: Die Veränderung der Arbeitswelt mit niedrigeren Löhnen, mehr Unterbrechungen und geringfügiger Beschäftigung hat zu einem Anstieg der relativen Armut bei Rentenempfängern geführt. Immer mehr Menschen, die gesund genug sind, arbeiten weiter, manche engagieren sich in Wohlfahrtsverbänden oder in der Familie, andere sind auf Grundsicherung angewiesen.

Altersarmut in einem reichen Land

Die älter werdende Gesellschaft belaste nicht nur die Rentenkasse, sagt Ellen Ueberschär, sondern führe auch zu einem Arbeitskräftemangel, besonders in der Pflege: "Das ist ein Riesenproblem, weil zwei Züge aufeinander zurasen - auf der einen Seite der erhöhte Pflegebedarf und auf der anderen Seite der Mangel an Pflegekräften."

Auch die Digitalisierung sei eine Herausforderung, weil sie die Arbeitsverhältnisse stark verändere. Ganze Berufsfelder fallen weg, Menschen werden arbeitslos. "Wie kann eine Person heute über ihr Berufsleben hinweg ein existenzsicherndes Einkommen haben?" Davon hängt auch die Alterssicherung ab.

Stadtquartiere für Jung und Alt

Das Sozialstaatsmodell in Deutschland setzt auf einen Mix aus Staat, Markt und der Zivilgesellschaft, erläutert Ueberschär, anders als in marktwirtschaftlichen Modellen wie in Großbritannien oder staatlich organisierten Varianten in skandinavischen Ländern wie Schweden. Der deutsche Mix mit großem ehrenamtlichen Engagement könne viel zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beitragen.

Wichtig sei - neben Umverteilung - Innovation in Stadtquartiere für alle, "in denen alte Menschen wohnen bleiben können und Bildungseinrichtungen für Jüngere sind". Sozialer Zusammenhalt werde nicht gestärkt, wenn "wir Kinder in große Schulen stecken, weit weg vom Wohnort, wenn wir Pflegebedürftige irgendwo im Wald im Heim unterbringen".

Auf einer Bank in einem blühenden Garten sitzen Mutter, Tochter und Großmutter zusammen und schauen gemeinsam in ein Buch
Wohnquartiere für Jung und Alt - der Sozialatlas empfiehlt neue Strukturen, damit Menschen aller Generationen zusammenleben könnenBild: imago stock&people

Der Sozialatlas mahnt Inklusion an - den Abbau von Barrieren für Menschen mit Behinderung. Deutschland könne von anderen lernen: So sei in London jedes Taxi barrierefrei zu nutzen, in Finnland gebe es mehr Angebote in einfacher Sprache, in Schweden keine Sonderwohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung und mehr Förderung zur Teilnahme am regulären Arbeitsmarkt.

Herausforderung Klimagerechtigkeit

Als zentrale Aufgabe nennt der Sozialatlas die ökologische Frage, Wohlstand ohne Umweltzerstörung und einen Richtungswechsel in der Energie- und Klimapolitik, der "alle Bereiche unserer Wirtschaft fundamental verändern wird". Auch in diesem Sektor fehlen Arbeitskräfte: Die Autoren gehen von mehr als 760.000 neuen Arbeitsplätzen aus.

Infografik Sozialatlas 2022 Arbeitskräftebedarf für Klimaneutralität DE (Sperrfrist)

Steigende Energiepreise belasten Ärmere besonders stark. Ellen Ueberschär, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, plädiert im DW-Interview für eine Entlastung durch ein Energie- oder Klimageld. Die Grünen hatten im Wahlkampf dafür geworben, die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung an die Bürger auszuzahlen.

Der Sozialstaat müsse handeln, um Ungleichheiten nicht zu verschärfen, fordert Ueberschär. "Die Klimakrise trifft die Ärmsten am härtesten. An den laut befahrenen Straßen wohnen nicht die Wohlhabenden, sondern genau die, denen die Energiepreise zu schaffen machen." Eine Energiewende bringe auf Dauer mehr Versorgungssicherheit und Unabhängigkeit von geopolitischen Risiken.

Migration als Chance

Nicht nur bei der Pflege und in der Klimafrage: "Wir brauchen Migration, auch um unseren Arbeitskräftebedarf zu decken", sagt Ueberschär. Investiert werden müsse in Bildung, Teilhabe und Inklusion, Sprachkurse und Integrationsangebote. Ohne entsprechende Förderung sei das Armutsrisiko bei Geflüchteten häufig erhöht.

Andererseits zeige sich, dass Menschen mit Migrationshintergrund zunehmend selbst zu Arbeitgebern werden. Die Anzahl der Beschäftigten, die von Selbstständigen mit Migrationshintergrund beschäftigt werden, ist von 1,55 Millionen im Jahr 2005 auf 2,27 Millionen im Jahr 2018 gestiegen.

Infografik Sozialatlas 2022 Beschäftigungseffekte durch Migration DE (Sperrfrist)

Der Sozialatlas will zur Debatte über eine Reform anregen - eine einfache Lösung gibt es nicht. Wie sieht die Vision für den Sozialstaat in zehn Jahren aus?

"Dann haben wir sehr viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in neuen Klima-Jobs", wünscht sich Ellen Ueberschär, dazu ein Zusammenwirken von Integration, Pflege und Bildung in Stadtquartieren. "Und dann haben wir ein gerechteres Steuersystem und sind gut gerüstet für die Aufgaben der Zukunft."