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Sozialschmarotzer oder Zugewinn?

Michael Lawton (js)14. Oktober 2013

Deutsche Städte beklagen, dass Einwanderer aus ärmeren EU-Staaten nur einreisen, um Sozialleistungen zu bekommen. Laut einer EU-Studie profitiert Deutschland aber von der Zuwanderung.

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Bewohner eines Hauses mit Gepäck (Foto: picture-alliance/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Großstädte wie Berlin, Mannheim oder Duisburg müssen schon seit einiger Zeit mit einer großen Zahl von armen Menschen zurechtkommen. Sie reisen oft aus Rumänien und Bulgarien ein, den beiden ärmsten Ländern der EU, und leben in minderwertigen Häusern. Anspruch auf Sozialleistungen haben die Einwanderer in aller Regel nicht. Aber Kindergeld steht ihnen zu. Der deutsche Staat zahlt jeden Monat fast 190 Euro pro Kind: Für deutsche Verhältnisse ist das nicht viel, aber für die Einwanderer deutlich mehr, als sie in ihrer Heimat bekommen würden. So lohnt sich die Einreise für viele, auch wenn sie Deutschland nach drei Monaten wieder verlassen müssen, weil sie keine Arbeit gefunden haben.

Die Städte sorgen sich vor allem um die Zukunft. Denn ab dem kommenden Jahr haben Bulgaren und Rumänen die gleichen Rechte wie alle anderen EU-Bürger: Das bedeutet, dass sie während der ersten drei Monate in Deutschland Arbeitslosenunterstützung bekommen können. Dadurch, so die Befürchtung, könnte die Armutszuwanderung dramatisch zunehmen: "Das ist im Moment mein größtes soziales und politisches Problem", meint Reinhold Spaniel, Stadtdirektor der ehemaligen Industriestadt Duisburg.

Wer profitiert: Einwanderer oder Einwanderungsland?

Eine Studie der Europäischen Kommission besagt aber etwas anderes: nämlich, dass Deutschland keinen Grund hat, sich zu beklagen - und im Moment von der EU-Einwanderung sogar profitiert.

Bulgarisches Universitätsdiplom (Foto: DW)
Bulgarisches Universitätsdiplom: Einwanderer nur eine Last?Bild: DW

In der Studie wurden die Folgen der so genannten "Armutsmigration" untersucht, konkret: wie sich die Zuwanderung aus ärmeren EU-Staaten auf die Sozialsysteme reicherer Länder auswirkt. Für Deutschland hat sie ergeben, dass EU-Einwanderer weniger als fünf Prozent derjenigen ausmachen, die soziale Unterstützung vom Staat bekommen. Das ist der gleiche Anteil wie in Finnland, Frankreich, den Niederlanden oder Schweden. Die meisten Einwanderer leben demnach in Familien, in denen mindestens einer Arbeit hat.

Die Studie kommt zu dem Ergebnis, "dass es kaum Anhaltspunkte dafür gibt, dass EU-Bürger hauptsächlich deshalb in ein anderes Mitgliedsland auswandern, um von den Sozialsystemen zu profitieren - sondern in den meisten Fällen aus beruflichen oder familiären Gründen." Die Zahl der arbeitslosen Einwanderer aus anderen EU-Staaten macht in den meisten Mitgliedsstaaten nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung aus, in Deutschland ist das etwas mehr als ein Prozent. Im Schnitt sind EU-Einwanderer sogar seltener arbeitslos als Einheimische.

Die große Mehrheit zahlt Steuern

Auch EU-Beschäftigungskommissar László Andor sagte gegenüber Spiegel Online: "Die große Mehrheit der Rumänen und Bulgaren arbeitet und trägt stark zum Wachstum Deutschlands bei, denn sie zahlt Steuern und Sozialversicherungsbeiträge und gibt in Deutschland Geld aus." Die Zahlen geben ihm Recht: Über 20 Prozent der Zuwanderer aus den beiden EU-Ländern haben einen Hochschulabschluss, das ist ein höherer Anteil als bei der deutschen Gesamtbevölkerung.

Auch Reinhold Spaniel sieht, dass viele hoch qualifizierte Menschen aus Rumänien und Bulgarien nach Deutschland kommen - sein Problem seien nicht diese Einwanderer, sondern die armen, schlecht oder gar nicht ausgebildeten: "Armutsmigration wird durch ökonomische Probleme in den Heimatländern verursacht," betont der Duisburger Stadtdirektor. "Auch Diskriminierung führt dazu, dass Menschen ihre Heimat verlassen und nach Deutschland kommen."

Armut trifft auf Armut

Das trifft vor allem auf Angehörige der Roma-Minderheit zu, die in ihren Heimatländern unter hoffnungslosen Bedingungen leben. Oft haben sie keine Ausbildung, einige können nicht einmal lesen und schreiben. Und landen dann in Städten wie Duisburg, weil dort die Mieten niedrig sind. "Wir haben viele Schrottimmobilien hier," sagte Spaniel der DW. "Die Vermieter überlassen ihnen eine Matratze für 10 Euro pro Nacht. Die Einwanderer gehen natürlich nicht nach Düsseldorf, Stuttgart oder Hamburg, denn dort sind die Mieten viel höher." Schon jetzt leben 8.500 dieser armen Zuwanderer in Duisburg, und jeden Monat kommen 500 dazu.

Hochhaus in Duisburg von außen
Armutszuwanderung durch niedrige Mieten

Aus Sicht von Christoph Butterwegge, Armutsforscher an der Kölner Universität, darf das nicht das Problem einzelner Städte sein. "Besonders weil es gerade die Kommunen betrifft, die ohnehin unter Finanznöten leiden. Wenn man allerdings die Perspektive öffnet und sich ganz Deutschland ansieht, dann ist genug Geld da, um die Probleme zu lösen."

Wer muss handeln: Bundesregierung oder EU?

Doch der deutsche Innenminister, Hans-Peter Friedrich, besteht darauf, dass die EU mehr tun muss: Es müssten neue Regelungen gefunden werden, Menschen daran zu hindern, erneut ins Land zurückzukehren, wenn sie schon beim letzten Mal keine Arbeit gefunden haben. Der Zeitung "Die Welt" sagte er: "Die Freizügigkeit umfasst nicht das Recht, sich Sozialleistungen zu erschleichen."

Christoph Butterwegge kritisiert den Innenminister scharf und fordert ihn auf, den Wahlkampf zu beenden: "Friedrich hat diese armen Einwanderer für eine Kampagne missbraucht, damit er den Hardliner spielen kann. Aber er sollte zur Kenntnis nehmen, dass es sich um EU-Bürger handelt. Er hätte am liebsten nur die Freiheit für das Kapital, aber wichtiger ist natürlich die Freizügigkeit der Menschen."

Doch auch wenn es laut EU-Studie für Deutschland keinen Grund gibt, sich über die Einwanderung aus anderen Mitgliedsstaaten zu beklagen: Die Belastung für Städte und einzelne Stadtteile bleibt, wenn immer mehr arme Einwanderer dort ankommen, die nur wenig Chancen auf einen Job haben. Trotz des Drucks, unter dem Duisburg steht, will Stadtdirektor Reinhold Spaniel aber an den Gesetzen nichts ändern: "Diese Menschen haben dasselbe Recht, sich in der EU frei zu bewegen, wie Franzosen oder Briten. Aber wir können diese Probleme mit unseren Mitteln nicht stemmen. Wir brauchen Hilfe von der Bundesregierung oder von der EU."

Auf längere Sicht seien EU-Mittel nötig, um die Bedingungen in den Ländern zu verbessern, aus denen die Einwanderer kommen: Nur dann lasse der Druck auf die Menschen nach, ihre Heimat zu verlassen. Doch damit ist auf absehbare Zeit nicht zu rechnen. Für Spaniel bleibt einstweilen die Sorge um seine Stadt: "Wir müssen aufpassen, dass wir den sozialen Frieden nicht gefährden - wir haben schon jetzt in manchen Gegenden eine Situation, die für die Nachbarn kaum mehr zu ertragen ist."

Frauen und Kleinkind auf einem Hinterhof (Foto: Andreea Tanase)
Auswanderungsdruck durch Armut und Ausgrenzung: Roma-Dorf in RumänienBild: Andreea Tanase