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Spanien wählt die Ungewissheit

Jan D. Walter21. Dezember 2015

Schon im Vorfeld hatte die spanische Presse die Parlamentswahlen 2015 zur "Wahl des Wandels" erklärt: Erstmals seit 1982 steht nach der Wahl keine Regierung fest. Und auch sonst ist alles offen.

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Rajoy gestikuliert (Foto: picture-alliance/dpa)
Die Volkspartei von Ministerpräsident Rajoy ist zwar stärkste Kraft geblieben, kann aber nicht mehr allein regieren.Bild: picture-alliance/dpa

Wäre Spanien Deutschland, stünden alle Zeichen auf große Koalition. Aber in Spanien sind die politischen und ideologischen Gräben tiefer als in Deutschland. Deshalb ist das einzige, was am Tag nach den Parlamentswahlen feststeht: Spanien hat sein Zweiparteiensystem abgewählt.

Erstmals seit 1982 steht keine der beiden großen Parteien des Landes am Wahlabend als eindeutiger Sieger fest. Die regierende Volkspartei, PP, kam auf nur 28 Prozent der Wählerstimmen und verliert damit mehr als ein Drittel ihrer Parlamentssitze. Die Sozialistische Arbeiterpartei, PSOE, hat mit 22 Prozent (2011: 29 Prozent) zum zweiten Mal hintereinander ihr schlechtestes Ergebnis seit Wiedereinführung der Demokratie in den 70er Jahren eingefahren.

Als Hauptgründe dafür sieht Mariano Torcal, Politikprofessor der Universität Pompeu Fabra in Barcelona, die schlechte Wirtschaftslage und die anhaltenden Korruptionsskandale der etablierten Parteien: "Angesichts der Umstände bin ich geradezu überrascht, wie viele Stimmen vor allem die PP noch bekommen hat", teilte er der DW mit.

Obwohl die beiden etablierten Parteien erneut die stärksten Kräfte im Parlament stellen, dürfte keine von ihnen in der Lage sein, ohne weiteres eine regierungsfähige Koalition zu bilden.

Rivera steckt Wahlzettel in die Urne (Foto: Reuters/A. Comas)
Der junge Ciudadanos-Chef Albert Rivera hat viele Spanier begeistert.Bild: Reuters/A. Comas

Neulinge nicht stark genug

Die einzige bedeutende Partei der Mitte im neugewählten Parlament wird die erstmals vertretene liberale Partei Ciudadanos (Bürger) um den 36-jährigen Vorsitzenden Albert Rivera sein. Sie wäre für die beiden großen Parteien ein möglicher Koalitionspartner. Doch mit ihren 14 Prozent blieb sie deutlich hinter den Erwartungen zurück. Die noch im Dezember prognostizierten 20 Prozent hätten zur Regierungsbildung mit der PP genügt.

Nun können die beiden wirtschaftsliberalen Parteien höchstens auf eine Minderheitsregierung hoffen. Das allerdings würde viele Enthaltungen bei der Wahl des Ministerpräsidenten voraussetzen. Außerdem könnte das vier Jahre politischen Stillstand bedeuten, meint die Politologin Susanne Gratius, die an der Autonomen Universität Madrid forscht: "Ich sehe keine Partei, aus der die fehlenden Stimmen für Gesetzesvorschläge dieser Regierungskoalition kommen könnte."

Wahlsieger im Abseits

Etwas anders sieht es auf der anderen Seite des politischen Spektrums aus. Dort steht der eigentliche Wahlsieger Podemos mit 21 Prozent der Wählerstimmen praktisch auf Augenhöhe mit der PSOE. Podemos wurde erst Anfang 2014 aus einer Protestbewegung als Reaktion auf die Sparpolitik der PP-Regierung gegründet.

Voraussichtlich fänden sich genug Parlamentarier - zumal aus separatistischen Regionalparteien aus Katalonien und dem Baskenland -, die einer Koalition aus Podemos und PSOE zur absoluten Mehrheit im Parlament verhelfen würden. Denn Podemos hat damit geworben, sich für ein Unabhängigkeitsreferendum stark zu machen.

Fraglich bleibt, welchen Preis die Parteien bereit sind zu zahlen: Die PSOE müsste sich mit der Liste von Bedingungen auseinandersetzen, die Podemos-Generalsekretär Pablo Iglesias noch am Wahlabend aufgestellt hat. Aber auch Podemos würde sich untreu werden, meint die Politologin Gratius: "PSOE gehört zum politischen Establishment, und damit will Podemos ja eigentlich nichts zu tun haben."

Menge mit katalanischen Fahnen (Foto: Reuters/A. Gea)
Eine der wichtigsten Fragen in Spanien zur Zeit: Wie umgehen mit dem katalanischen Separatismus?Bild: Reuters/A. Gea

Große Koalition ausgeschlossen

Rein rechnerisch wäre eine große Koalition aus PSOE und PP also die vielleicht pragmatischste Lösung. Doch die ist in Spanien nahezu ausgeschlossen: "Spaniens politische Kultur ist traditionell sehr polarisiert", erklärt Christian Pfeiffer, Politikforscher der Universität Rostock. So gelte die inzwischen liberal-konservative PP vielen Vertretern der politischen Linken immer noch als Nachfolgeorganisation der Franco-Diktatur. Dabei haben die historischen Verbindungen des rechten Parteirandes zum Kabinett von General Franco praktisch keinen Einfluss mehr auf die Politik der Partei.

Schwerer, meint Pfeiffer, wögen inzwischen die aktuellen Gegensätze - etwa in der Wirtschaftspolitik: "Die PP orientiert sich am Neoliberalismus, die PSOE am Keynesianismus." Die PP will also Steuern senken, um Investitionsanreize zu setzen, die PSOE dagegen will die Wirtschaft mit staatlichen Investitionen anschieben und nimmt dafür höhere Abgaben oder Neuverschuldung inkauf.

Für Susanne Gratius ist entscheidender die Frage der nationalen Einheit: "Die PSOE will den Föderalismus stärken, um Katalonien im Land zu behalten, die PP will dafür das Land zentralisieren."

Zudem, betont Gratius, würde eine Koalition mit der PP den endgültigen Untergang der PSOE bedeuten. Das sieht auch ihr spanischer Kollege Mariano Torcal aus Barcelona so: "Erstens würde die PSOE die politische Linke dann Podemos überlassen. Zweitens würde ihre Stammwählerschaft der PSOE einen Pakt mit der PP niemals entschuldigen."

Politischer Klimawandel

Zusätzlich haben persönliche Attacken zwischen den beiden Parteiführern, Ministerpräsident Mariano Rajoy und PSOE-Chef Pedro Sánchez, während des Wahlkampfes das Klima vergiftet. Vielleicht deshalb lautet eines der zahlreichen Gedankenexperimente, die derzeit die Runde machen, dass die PSOE einer großen Koalition doch zustimme könnte, wenn der 60-jährige Rajoy seiner 44-jährigen Vertreterin Soraya Sáenz de Santamaría den Posten der Ministerpräsidentin überlassen würde.

"Damit würde auch die PP den Generationenwechsel vollziehen, den die anderen Parteien eingeleutet haben", sagt der Rostocker Politikforscher Pfeiffer. Schon im Wahlkampf hatte Santamaría ihren Chef Rajoy teilweise in Diskussionsrunden mit den drei anderen jungen Spitzenkandidaten vertreten. Die hatten die dröge spanische Politbühne mit ihrem geradezu sportlich-kollegialen Umgang miteinander regelrecht aufgemischt - ein Stil, den Rajoy nicht zu parieren wusste.

Aber auch diese Aussicht, stellt Pfeiffer klar, gehöre zu diesem Zeitpunkt ins Reich der Spekulationen. Das Wahrscheinlichste, so sieht es auch Gratius, sei derzeit eine Neuwahl.