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Spannungen zwischen Roma und Ukrainern in Tschechien

Lubos Palata (aus Pardubice)
5. Juli 2023

In Tschechien häufen sich die Konflikte zwischen einheimischen Roma und ukrainischen Geflüchteten. Zwei gewalttätige Einzelfälle haben zu großen anti-ukrainischen Demonstrationen von Roma geführt.

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Tschechien Gedenkveranstaltung vor dem Janacek-Theater für einen jungen Roma
Gedenken an einen jungen Rom, der in der Stadt Brünn von einem Ukrainer erstochen wurdeBild: Monika Hlavacova/CTK Photo/dpa/picture alliance

"Ukrainer, geht nach Hause!" - "Dies ist unser Land" - "Wir verlangen Sicherheit!" Diese Parolen riefen Hunderte Menschen, die in den vergangenen Tagen in der tschechischen Stadt Pardubice auf die Straße gegangen sind. Es handelt sich um tschechische Roma, die lautstark gegen ukrainische Flüchtlinge protestieren, von denen sie sich zunehmend bedroht und verdrängt fühlen. Erst am Samstagabend war es in der 100.000-Einwohner-Stadt in Mittelböhmen zu einer Schlägerei zwischen etwa 20 Ukrainern und Angehörigen der tschechischen Roma-Minderheit gekommen. Die Polizei nahm drei Männer fest, ein Rom musste mit Stichverletzungen im Krankenhaus behandelt werden. Ein Video, das den Messerangriff auf den Mann zeigt, verbreitete sich in Windeseile in den sozialen Medien.

Tschechien Gedenkveranstaltung vor dem Janacek-Theater für einen jungen Roma
Gedenkveranstaltung für einen ermordeten jungen Rom in der tschechischen Stadt Brünn am 17.06.2023 Bild: Monika Hlavacova/CTK Photo/dpa/picture alliance

Die Lage in der Roma-Gemeinschaft ist seit Mitte Juni angespannt. Damals wurde ein junger Rom in Brünn bei einer ähnlichen Auseinandersetzung von einem Ukrainer getötet. Auch in diesem Fall handelte es sich um einen Messerangriff. "Der Angreifer war ein Ukrainer, der sich an der lauten Musik von Roma-Jugendlichen in der Straßenbahn störte", berichtete der Nachrichtenserver Idnes.cz.

"Wir sind hier zu Hause!"

Damals fand einige Tage nach dem Mord im Zentrum von Brünn eine Demonstration gegen die Regierung und die Ukraine statt, bei der pro-russische Provokateure die Führung übernahmen. Auch am vergangenen Sonntag, als Roma aus der ganzen Tschechischen Republik zu der Demonstration nach Pardubice kamen, wurden regierungsfeindliche und anti-ukrainische Parolen skandiert.

"Wir sind hier zu Hause!", riefen die Roma und forderten Schutz vor "ukrainischen Gewalttätern". Sie beschuldigten die Geflüchteten, aggressiv und dem Alkohol verfallen zu sein. "Wir wollen die Regierung darauf aufmerksam machen, dass wir auch Bürger dieses Landes sind und nicht bewaffnet durch die Stadt laufen und andere angreifen", so die Demonstranten. Der Roma-Aktivist Ferdinand Banik sagte vor Journalisten: "Wir wollen friedlich leben. Der jüngste Fall ist kein Einzelfall. Es gibt immer mehr Konflikte zwischen Ukrainern und Roma."

Justizminister Pavel Blazek kritisierte die Demonstranten jedoch, da sie ihren Protest nicht bei den Behörden angemeldet und damit gegen das Versammlungsgesetz verstoßen hätten. "Die Teilnahme und die Aufrufe zur Teilnahme sind illegal. Die Verfassung und die Gesetze müssen für alle gelten - für Mehrheiten und Minderheiten", so der Minister auf seinem Twitter-Account. 

Unterstützung für Ukrainer auf Kosten der Roma?

Ein Großteil der Roma in der Tschechischen Republik ist auf Sozialleistungen angewiesen. Viele von ihnen haben das Gefühl, dass ukrainische Flüchtlinge bei der Zuteilung sozialer Unterstützung bevorzugt werden. Im Frühjahr kam es auf Arbeitsämtern, darunter auch in Prag, mehrfach zu Auseinandersetzungen zwischen Ukrainern und Roma, die jeweils Sozialhilfe beantragen wollten. In mehreren Fällen musste die Polizei die Situation beruhigen.

Ukrainische Kinder halten in einer für sie eingerichteten Schulklasse in Prag selbstgemalte Bilder hoch
Ukrainische Kinder lernen in einer tschechischen Schule. Sie werden dort in ihrer Muttersprache unterrichtetBild: Vit Simanek/CTK Photo/dpa/picture alliance

Tschechien hat seit Beginn des Kriegs im Februar 2022 Hunderttausende Flüchtlinge aufgenommen. Derzeit leben rund 400.000 von ihnen in dem 10-Millionen-Einwohner-Land. Bisher hatten sie Anspruch auf höhere Leistungen als tschechische Staatsbürger, die auf Unterstützung angewiesen sind; zum Beispiel wurde ihre Unterkunft vollständig vom Staat finanziert. Diese Leistungen wurden jedoch inzwischen für diejenigen eingestellt, die sich seit mehr als sechs Monaten im Land aufhalten. Offiziell sollen damit gleiche Bedingungen für alle Einwohner Tschechiens geschaffen werden.

Tschechischen Experten zufolge fühlen sich die Roma auch auf Arbeitsmarkt benachteiligt. Viele glauben, dass tschechische Arbeitgeber Stellen an Ukrainer geben, die vorher sie innehatten. "Ukrainer stehen auf der gesellschaftlichen Rangliste immer noch etwas höher als Roma", sagte der Sozialanthropologe Matous Jelinek dem Nachrichtenportal Denik N.

Falschinformationen aus Russland

Darüber hinaus zielten pro-russische Gruppen besonders auf Roma ab, um Desinformationen und Hass gegen Ukrainer zu verbreiten, sagt die Regierungsbeauftragte für die Roma-Minderheit, Lucie Fukova, der DW. "Es gibt viel Frustration unter den Roma, die hier ohnehin als Bürger zweiter Klasse angesehen werden."

Lucie Fukova, Vertreterin der tschechischen Regierung für die Angelegenheiten der Roma-Minderheit
Lucie Fukova, Beauftragte der tschechischen Regierung für die Angelegenheiten der Roma-MinderheitBild: Regierung der Tschechischen Republik

Durch Fehlinformationen könne in den sozialen Medien leicht eine anti-ukrainische Stimmung geschürt werden. Schon in der Zeit der Corona-Pandemie seien Angehörige der Minderheit anfällig für Desinformationen gewesen, fügt sie hinzu. "Jetzt haben die Desinformationskampagnen gerade ein neues Thema gefunden - die Ukrainer", so Fukova. Einen Ausweg sieht sie in der Förderung von Bildung und Ausbildung der Roma-Gemeinschaft. Es müssten Bedingungen geschaffen werden, die es ihnen ermöglichten, ihre Schulbildung abzuschließen und ein Hochschulstudium aufzunehmen.

Jahrhundertelange Geschichte in Tschechien

In der Tschechischen Republik leben etwa 250.000 Roma. Ihre Anwesenheit in dem Land ist seit dem frühen 15. Jahrhundert dokumentiert. Doch genau so alt ist auch die Geschichte ihrer Diskriminierung. Im Zweiten Weltkrieg fielen die meisten von ihnen der deutschen Völkermordpolitik zum Opfer. Nur rund 600 überlebten die Vernichtungslager. Doch nach dem Krieg nahm ihre Zahl rasch wieder zu - unter anderem infolge von Zwangsumsiedlung und Zuwanderung aus dem Osten der damaligen Tschechoslowakei und angrenzender Länder.

Demonstranten in Teplice halten nach dem Tod eines jungen Rom im Jahr 2021 die Fahne der Roma-Community in die Höhe und Schilder it der Aufschrift "Roma Lives Matter" - in Anlehnung an die "Black-Lives Matter"-Bewegung in den USA
Im Juni 2021 wurde in Teplice ein junger Rom von Polizisten getötet. Die Gedenkveranstaltung für ihn wurde zu einer Protestkundgebung gegen die Diskriminierung der Roma-Minderheit in TschechienBild: Ondrej Hajek/CTK/picture alliance/dpa

Auch in der Zeit des Kommunismus waren die Roma zahlreichen Diskriminierungen ausgesetzt, und nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft wurden sie oft Angriffsziel von rechtsextremen und rassistischen Gruppen. Bis heute leiden sie unter sozialer Benachteiligung und leben oft in ärmlichen Verhältnissen.

"Roma fühlen sich in der Tschechischen Republik weiterhin diskriminiert", sagte die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatovic, im Februar dieses Jahres. Im Gegensatz dazu ist die Tschechische Republik stolz auf ihre Bewältigung der großen ukrainischen Flüchtlingswelle. Mehr als 100.000 Ukrainer haben bis zum Frühjahr dieses Jahres Arbeit in der Tschechischen Republik gefunden, und neunzig Prozent der ukrainischen Kinder (etwa 50.000) besuchen tschechische Schulen. Gleichzeitig hat die Regierung klar ausgeschlossen, dass es wegen der Ausgaben für ukrainische Flüchtlinge weniger Mittel für tschechische Bürger, einschließlich der Roma, gibt. "Die Ausgaben für ukrainische Flüchtlinge machen nur einen Bruchteil der gesamten finanziellen Hilfe aus, die die Regierung den tschechischen Bürgern in der Energie- und Finanzkrise gewährt hat", sagte der tschechische Außenminister Jan Lipavsky der DW.

Porträt eines Mannes mit blondem Haar, er trägt ein weißes Hemd und ein blau-schwarz kariertes Sakko
Lubos Palata Korrespondent für Tschechien und die Slowakei, wohnhaft in Prag