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Spielraum für Kritik wird immer kleiner

11. Dezember 2018

Die Türkei hält den Weltrekord, was Verhaftungen von Journalisten angeht, aufgestellt bei einer Razzia, die auf den gescheiterten Putschversuch 2016 folgte. Einschüchterungen, Selbstzensur und offene Zensur sind Alltag.

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Karikatur Article 19
Bild: DW

Meine erste Berufung in die Türkei 1993 kam einen Monat nach dem Attentat auf Ugur Mumcu, einen der bekanntesten Journalisten des Landes, der durch eine Autobombe getötet wurde. Hunderttausende kamen zu seiner Beerdigung. Bis heute wird sein Tod euphemistisch als „ungelöster Mord“ bezeichnet. 

„Ungelöster Mord“ – ein Begriff aus den 1990er-Jahren, genutzt in Zusammenhang mit Hunderten Morden an Medienschaffenden, Menschenrechtsaktivisten und Politikern, die Verbindungen zur pro-kurdischen Bewegung hatten. In diesem Jahrzehnt war die Türkei nach Bosnien und Herzegowina, wo Bürgerkrieg herrschte, einer der gefährlichsten Orte für Journalisten. 

Das neue Jahrtausend bot eine einzigartige Konstellation: die Ankündigung eines Waffenstillstands durch die PKK, die Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der EU, schließlich die Wahl der AKP unter Vorsitz von Recep Tayyip Erdogan, die eine Ära neuer Freiheiten versprach. Über kurdische Rechte oder Armenier zu berichten – es war kein Tabu mehr. Für ein paar Jahre blühten die Medien auf. Zusätzlichen Auftrieb gab das Internet. 

Das Phantom der Selbstzensur ist zurück

Heute erscheint dies alles wie aus einem anderen Land. Die Türkei ist für Journalisten gefährlicher denn je. Laut Reporter ohne Grenzen sind über 100 Medienschaffende hinter Gittern. Die Regierung argumentiert, niemand stehe über dem Gesetz, die Betroffenen seien wegen Terrorvorwürfen in Haft, nicht wegen ihrer journalistischen Arbeit. 

Angesichts von Antiterrorgesetzen, die den Behörden sehr viel Spielraum bieten, kann die bloße Berichterstattung über ein Terrorereignis schon zu Strafverfolgung und Gefängnis führen. Schlimmer noch: Die meisten Reporter landen ohne Anklage im Gefängnis. Nach türkischem Recht können sie bis zu fünf Jahre ohne Anklage festgehalten werden.

Titelbild Weltzeit 1|2019; mit AusgabennummerTitelbild Weltzeit 1|2019; mit Ausgabennummer
Dieser Beitrag stammt aus dem gedruckten DW-Magazin Weltzeit 1 | 2019: #Article19ForAll – Information braucht FreiheitBild: DW

Jeden Monat laufen Anhörungen, hauptsächlich im Istanbuler Justizpalast, Europas größtem Gerichtsgebäude. Sie sollen anderen als Warnung dienen. So ist das Phantom der Selbstzensur zurückgekehrt – voller Rachegelüste. Ein kürzlich freigelassener Schriftsteller, der anonym bleiben will, sagte: „In der Türkei gibt es immer Tabuthemen für Autoren. Einst waren es die Armenier, heute sind es Erdogan und seine Familie.“

Korruptionsvorwürfe verfolgen den Präsidenten, der sie als Verschwörung abtut. In der Türkei wagen es nur wenige, über dieses Thema zu schreiben. Der deutsche Journalist Deniz Yücel versuchte, über die mutmaßliche Korruption Berat Albayraks, Erdogans Schwiegersohn, zu berichten, er landete für über ein Jahr im Gefängnis.

Für Reporter in der Türkei wird der Spielraum für kritische Berichterstattung immer kleiner. Parallel zu wachsenden Repressionen gegen Journalisten läuft eine beispiellose Zentralisierung im Mediensektor. Immer mehr Medienhäuser sind im Besitz von Anhängern des Präsidenten.

Weltmeister auch bei Internet-Blockaden

Nur eine Zeitung, Cumhuriyet, bleibt weitgehend kritisch. Obwohl auch hier die Geschäftsführung durch ein umstrittenes Gerichtsurteil verdrängt wurde. Kritiker sind überzeugt, der Präsident stecke dahinter. Seit dem gescheiterten Putschversuch von 2016 wurden Hunderte von Richtern und Staatsanwälten entlassen, viele festgenommen. Cumhuriyets früherer Chefredakteur Can Dündar floh aus der Türkei, erhielt in Deutschland Asyl.

Die bedeutendste Änderung in Cumhuriyets redaktioneller Ausrichtung ist eine offen feindselige Haltung gegenüber der pro-kurdischen Bewegung in der Türkei. Zeitungshäuser, die sich für die Rechte der Kurden weiterhin einsetzen, werden nicht mehr bombardiert, sondern „nur noch“ auf Gerichtsbeschluss beschlagnahmt. Diese umfassenden Befugnisse von Gerichten wurden nach dem gescheiterten Putschversuch eingeführt. Das geht einher mit einem breiten Angriff auf die kurdische Zivilgesellschaft. Selahattin Demirtas, der charismatische ehemalige Vorsitzende der pro-kurdischen HDP-Partei, drittgrößte parlamentarische Partei der Türkei, sitzt seit mehr als einem Jahr im Gefängnis.

„Ja, es ist wirklich schwierig”, so ein kurdischer Video-Journalist, der anonym bleiben möchte. „Doch es ist wichtig, dass wir uns erinnern, dass wir das Schlimmste gesehen und erlebt haben und dennoch weitergearbeitet haben, dass wir uns an die Opfer unserer Kollegen aus den 1990er-Jahren erinnern.“

Viele Journalisten wurden entlassen. Während einige den Beruf aufgegeben haben, machen andere mit eigenen Webseiten und in den Sozialen Medien weiter. Doch durch die drakonischen Gesetze der Türkei, die das Internet kontrollieren, bleibt das Risiko, verhaftet zu werden, bestehen. Gemeinsam mit China und Iran hält die Türkei auch den Weltrekord im Blockieren von Internetseiten.

Text: Dorian Jones, Türkei-Korrespondent