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Kopfverletzungen: Höheres Risiko für Frauen?

23. Februar 2023

Rugby, American Football und Fußball - bisher war die Erforschung von Kopfverletzungen im Sport eher männerzentriert. Doch das ändert sich. Neuere Studien zeigen: Die Gefahr für Frauen könnte größer sein als für Männer.

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Verletzte Bundesliga-Fußballerin aus Duisburg liegt auf dem Rasen, ein Betreuer drückt ihr einen Schwamm an den Kopf.
Sportlerinnen brauchen länger als Sportler, um sich von Kopfverletzungen zu erholenBild: Oliver Baumgart/foto2press/picture alliance

Neil und Morven Cattigan geben nicht auf, sie drängen auf Aufklärung. "Seit dem Tod unserer geliebten Tochter vor 14 Monaten sind wir bei der Suche nach Antworten von Scottish Rugby [schottischer Rugby-Verband - Anm. d. Red.] auf die Ereignisse, die zu Siobhans tragischem und vermeidbarem Tod geführt haben, immer noch nicht weitergekommen", erklärten im Januar die Eltern der schottischen Rugby-Nationalspielerin Siobhan Cattigan. Sie war im November 2021 im Alter von nur 26 Jahren plötzlich gestorben.

Ihre Eltern führen Siobhans Tod auf zwei Gehirnerschütterungen zurück, die sich die Spielerin bei Einsätzen für das Nationalteam im Februar 2020 und März 2021 zugezogen hatte. Danach habe sich das Wesen ihrer Tochter radikal verändert, fast wie bei einer Demenz, sagte Morven Cattigan in einem Interview der "Sunday Times": "Siobhan zerfiel vor unseren Augen, in ihrem Gehirn war etwas Katastrophales passiert." Die Familie hat rechtliche Schritte gegen den Rugby-Weltverband und den nationalen Verband Schottlands eingeleitet. Der Vorwurf: Cattigan sei nach ihren Verletzungen nicht richtig versorgt worden.

Dabei haben wissenschaftliche Studien gezeigt, dass Sportlerinnen mehr Zeit als männliche Athleten benötigen, um sich von Kopfverletzungen wie einer Gehirnerschütterung zu erholen. Andere Studien deuten zudem darauf hin, dass für Frauen in Kontaktsportarten wie Rugby, American Football oder auch Fußball generell ein höheres Risiko besteht, sich eine Kopfverletzung zuzuziehen als für Männer. So errechneten Wissenschaftler der Columbia-Universität in New York im Zeitraum von 2000 bis 2014 eine um 50 Prozent höhere Rate von Gehirnerschütterungen im Sport bei Frauen als bei Männern. Eine Datenerhebung unter 80.000 Fußballerinnen und -Fußballern an High Schools im US-Bundesstaat Michigan zwischen 2016 und 2019 ergab sogar ein doppelt so hohes relatives Risiko bei jungen Spielerinnen.

Schwächere Nackenmuskeln

Einen Grund für die mögliche größere Anfälligkeit für Kopfverletzungen sehen Forschende in der bei Frauen weniger ausgeprägten Nackenmuskulatur. "Wenn weniger Muskulatur vorhanden ist, um zu stabilisieren, gerät der Kopf in schnellere und stärkere Bewegung und braucht auch länger, um sich wieder im Rumpf zu stabilisieren", erklärt Inga Körte der DW. "In dieser Zeit fliegt das Gehirn gewissermaßen im Schädel nach vorne und nach hinten. Daraus ergibt sich eine höhere mechanische Belastung auf das Gehirn und dadurch wahrscheinlich auch ein höheres Risiko, dass dieses sich verletzt."

Die Professorin für Neurobiologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und der Harvard Medical School in Boston befasst sich seit vielen Jahren mit Kopfverletzungen im Sport. Sie untersucht unter anderem, ob auch das weibliche Hormonprofil dazu führt, dass das Gehirn möglicherweise verletzlicher ist, und welche Rollen der Menstruationszyklus und hormonelle Verhütungsmittel wie Spirale oder Pille spielen.

Eine französische Rugbyspielerin versucht mit dem Kopf voran eine englische Kontrahentin zu Fall zu bringen.
Einige Rugbyspielerinnen - wie hier im Six-Nations-Spiel gegen England - tragen inzwischen auch einen KopfschutzBild: PA Wire/empics/picture alliance

Eine weitere Ursache für ein erhöhtes Risiko von Gehirnerschütterungen bei Sportlerinnen könnte darin liegen, dass bei Frauen die Axone - schlauchförmige Fortsätze der Nervenzellen - dünner sind und aus weniger Mikroröhren bestehen als bei Männern. "Stellen Sie sich die männlichen Axone wie eine 10-spurige Autobahn vor, die weiblichen wie eine zweispurige", erklärt Elisabeth Williams von der walisischen Universität Swansea. Sie erforscht Kopfverletzungen in Kontaktsportarten, insbesondere bei Rugbyspielerinnen. "Bei einem Unfall auf einer der Fahrspuren haben die Männer mehr Spuren, um den Verkehr abzuleiten, während bei den Frauen mehr Verzögerungen und Staus auftreten können."

Williams verweist neben den körperlichen Faktoren auch auf soziologische Aspekte, die dazu führen könnten, dass Sportlerinnen sich eher am Kopf verletzen als Männer. "Viele Rugbyspielerinnen hatten zum Beispiel in der Schule keinen Zugang zum Rugby und haben erst an der Universität damit angefangen", sagt sie der DW. Damit hätten sie einen Rückstand von Jahren bei alters- und leistungsgerechtem Training, beim Erlernen von Falltechniken oder spezifischen Kraftübungen für Nacken und Oberkörper.

Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung

Es gelte, diesen Rückstand aufzuholen, fordert die britische Wissenschaftlerin. "Außerdem Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung von Spielern, Trainern, Eltern und Betreuern über die unterschiedlichen Symptome, die bei Frauen nach einer Hirnverletzung auftreten können, sowie über die biomechanischen und hormonellen Faktoren und die längeren Erholungszeiten." Dass Frauen länger als Männer brauchen, um sich von Gehirnerschütterungen zu erholen, sei durch zahlreiche Studien belegt, sagt Inga Körte. "Sie haben auch ein höheres Risiko für chronische Symptome - neben Kopfschmerzen auch Probleme im psychosozialen Bereich, die später vielleicht gar nicht mit einer Gehirnerschütterung in Zusammenhang gebracht werden."

Laufen Sportlerinnen damit womöglich auch eher Gefahr, im Alter aufgrund ihrer im Wettkampf erlittenen Kopfverletzungen an neurodegenerativen Krankheiten wie CTE (Chronische Traumatische Enzephalopatie, auch Boxer-Syndrom genannt), Alzheimer oder anderen Demenzerkrankungen zu leiden? "Frauen werden ohnehin häufiger dement als Männer", sagt Körte. Dass Sportlerinnen, die sich in ihren Karrieren Kopfverletzungen zugezogen hätten, ein noch höheres Risiko trügen, sei bisher nur eine Hypothese. "Aber sie treibt drei meiner großen Forschungsprojekte an. Es ist möglich."

Forschung statt "Besänftigungsaktivismus"

Die Wissenschaftlerin warnt jedoch vor "Besänftigungsaktivismus". So nennt Körte einige Regeländerungen, etwa im Fußball in den USA, England oder Schottland. "Man ruht sich dann womöglich auf einer neuen Regel aus, die leider überhaupt nicht den Nagel auf den Kopf trifft". Körte nennt als Beispiel das in den USA geltende Kopfball-Trainingsverbot für Kinder unter zehn Jahren. "Es gibt keine Daten, die zeigen würden, dass ab elf Jahren alles in Ordnung ist. Ganz im Gegenteil. 14- und 15-Jährige spielen sehr häufig Kopfball und sind mitten in der Pubertät, im maximalen Hormonschub. Ihre Gehirne sind wahrscheinlich am verletzlichsten."

Die Forschung zum höheren Risiko von Kopfverletzungen bei Sportlerinnen steckt nach den Worten Körtes noch in den Kinderschuhen. 80 Prozent aller Teilnehmenden an den bisherigen Studien zu Gehirnerschütterungen im Sport seien männlich gewesen. "Damit sind die Ergebnisse auch nicht gesund gewichtet." Das ändert sich jedoch langsam, aber sicher. So läuft in den USA inzwischen eine Langzeitstudie über den Zusammenhang zwischen schweren Kopfverletzungen im Fußball und American Football und einer möglichen späteren Erkrankung an CTE oder anderen neurodegenerativen Erkrankungen. Untersucht werden gleichermaßen Ex-Spielerinnen und -Spieler jenseits der 40. Zu den Teilnehmerinnen gehören auch einige frühere US-Fußballweltmeisterinnen wie Brandi Chastain, Michelle Akers oder Shannon MacMillan.

Für die jung gestorbene schottische Rugby-Nationalspielerin Siobhan Cattigan kommt dies alles zu spät. Ihrem Vater Neil Cattigan bleibt nur die bittere Erkenntnis: "Sie haben ihre gebrochenen Knochen gerichtet, aber Siobhans kaputtes Gehirn haben sie einfach ignoriert."

DW Kommentarbild Stefan Nestler
Stefan Nestler Redakteur und Reporter