Soll die Flut freien Lauf bekommen?
23. Dezember 2019Im Oktober 1634 brach eine gewaltige Sturmflut über Norddeutschland herein, zerstörte in einer einzigen Nacht Häuser und Besitztümer, tausende Menschen starben. Das Ereignis prägte nicht nur die nordfriesischen Geschichte, sondern auch die stark zerklüftete Nordseeküste.
In einem unscheinbaren Holzhaus auf Pellworm sind heute die Überreste der als "Zweite Grote Mandränke" berüchtigten Sturmflut ausgestellt, füllen Wände, Regale, Kisten und Schubladen. Die Insel Pellworm ist selbst nur das Überbleibsel einer einst größeren Insel, die in dem verheerenden Sturm unterging.
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Fliesen, Werkzeuge, Fingerhüte, Töpferwaren - und sogar menschliche Schädel - hat Helmut Bahnsen über Jahrzehnte auf seinen Wanderungen durchs Watt gesammelt, das seine Heimatinsel umgibt. Es sind Fundstücke aus Siedlungen, die dort standen, wo sich heute die Nordsee im Gezeiten-Takt bewegt - als wäre sie schon immer dort gewesen.
Ein "paar Millionen" Überbleibsel von Menschen, die einst dort wohnten und ihr Leben im salzigen Wasser der Nordsee verloren - Stücke, die sich auf die Steinzeit, die Römerzeit und das frühe Mittelalter datieren lassen. Trotzdem versank wohl noch sehr viel mehr in jener Nacht des 11. Oktober vor 385 Jahren in den Tiefen der See.
Wäre die Küste besser geschützt gewesen, sagt Bahnsen, hätte die Geschichte vielleicht einen ruhigeren Verlauf genommen. "Die Deiche waren zwei Meter hoch, aber sie waren nicht stabil. Für durchschnittliche Sturmfluten von damals hat das gereicht, aber nicht für Katastrophen."
Sicher hinter Küstenschutzanlagen
Heute sind die Deiche, die die Insel Pellworm umgeben und sich entlang der deutschen Nordseeküste erstrecken, bis zu acht Meter hoch und an die fünf Meter breit. Die neueren sind so gebaut, dass sie noch aufgestockt werden können, sollte der Meeresspiegel höher steigen als erwartet. Vielerorts sind die riesigen, grünen Schutzanlagen das Einzige, was die See vom tiefer gelegenen Land fernhält.
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Die Nähe des Wassers macht Ernst August Thams keine Angst. Er ist für die Wartung der Deiche auf Pellworm zuständig.
"Wir sind seit Hunderten von Jahren auf der Insel und wir wissen, wie wir mit dem Meer umgehen müssen", sagt Thams gegenüber der DW. "Die Deiche sind in einem sehr guten Zustand, da mache ich mir keine Sorgen." Er ist überzeugt, dass sie die "einzige Möglichkeit" zum Schutz der Insel sind.
Absichtliche Überflutung
Auf dem Festland, in der Stadt Husum, diskutierten die Menschen vor drei Jahren jedoch eine andere Idee. Sie diskutierten, was mit einem bestimmten Stück Küste passieren soll und überlegten, einen Teil davon überfluten zu lassen, um die Deiche zu entlasten.
Deichrückverlegung heißt das Verfahren: eine gezielte Überflutung, bei der die Küstenschutzanlage verkürzt, abgesenkt oder versetzt wird - oder die Gebiete werden erweitert, die überschwemmt werden können. Obwohl das selten angewendet wird, sind viele Naturschützer von dieser Alternative überzeugt.
Hans-Ulrich Rösner, der das Wattenmeer-Büro der Naturschutzorganisation WWF leitet, muss zugeben, dass sich diese Methode nicht so gut verkaufen lässt.
"Das Wasser freiwillig näher kommen zu lassen, ist für normale Menschen in aller Regel eine beängstigende Vorstellung", sagt er. "Man kann das nur machen, wenn die Menschen davon überzeugt sind." In Husum waren sie es nicht.
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Bürgermeister Schmitz glaubt, dass es in diesem Fall die richtige Entscheidung war, die Durchsetzung nicht zu erzwingen. Er schließt aber ähnliche Vorhaben in den kommenden Jahren nicht aus.
"Es wird sicherlich zukünftig weitere Starkregen-Ereignisse geben, bei denen wir überlegen müssen, ob wir Ackerflächen als Überschwemmungsgebiete nutzen können", sagt Schmitz der DW. "Aber das sind ethische Fragen, die der Kultur der Bewohner des Nordens zuwiderlaufen, die sich seit Jahrhunderten nicht nur gegen das Meer verteidigt, sondern auch versucht haben, ihm Land abzuringen."
Auf die Lage kommt es an
John Riby, Mitglied der britischen Vereinigung Institution of Civil Engineers, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Fragen des Hochwasser- und Küstenschutzes. Er beschreibt solche Deichrückverlegungen als "Arbeit mit der Natur zum Wohle des Menschen." Er sagt, dass der Schlüssel zum Erfolg die Auswahl des richtigen Ortes ist.
Die Mündung des Flusses Tee in Nordengland ist so ein Ort - ein Kernkraftwerk, Chemieunternehmen und andere Industrieanlagen sind dort regelmäßig von Überschwemmungen betroffen.
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Als die Firmen so stark vom Hochwasser bedroht waren, dass sie zeitweise sogar schließen mussten, wurde eine kontrollierte Rückverlegung geplant.
"Die Schutzwälle wurden zurückgesetzt, um Platz für das Wasser zu schaffen, ohne dass die Geschäfte beeinträchtigt wurden", erklärt Riby.
"Normalerweise hätte man neue Schutzanlagen am Fluss gebaut. Aber weil es möglich war, dass das Wasser die Überschwemmungsgebiete überflutete und es somit an den richtigen Ort geleitet wurde, gelang es, eine Abwehr zu schaffen, die nicht nur die Unternehmen schützte, sondern auch viel neuen Lebensraum für Robben und Flora und Fauna aller Art schuf", sagt Riby.
Rückverlegung, so lange es möglich ist
Viele Küsten weltweit werden jedoch für den Wohnungsbau genutzt. Das macht die Dinge noch schwieriger. Die Bewohner zu bitten, ihre Häuser und Dörfer zu verlassen, um Platz für Anpassungsmaßnahmen zu machen, sei keine gute Idee, sagt Riby.
"Wo deine eigene Wohnung ist, ist kein guter Platz, um einen Rückverlegungsplan umzusetzen." In manchen Fällen fiel die Entscheidung für einen Rückzug jedoch freiwillig. Nach dem Hurrikan Sandy, der 2012 über die Karibik und die USA hinwegfegte, beschlossen drei nah am Wasser gelegene Gemeinden im New Yorker Bezirk Staten Island, sich an den Staat zu wenden und ihr Land zu verkaufen. Rund 90 Prozent der Bewohner stimmten dem Verkauf zu.
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Der US-amerikanische Fotograf und Filmemacher Nathan Kensinger dokumentierte viele Jahre lang die Entwicklung von New Yorks Hafengebieten. Er zeigte, wie die Menschen wegzogen und die Natur das Gebiet zurückeroberte. Seine teils unheimlichen Bilder von Spielzeug, Kleidung oder Möbeln in den verlassenen Häusern sprechen Bände über die Kraft des Meeres auf einem sich erwärmenden Planeten. Fast alles, was diese Gemeinden einst ausmachte, ist heute längst verschwunden.
"Die Idee dieses Rückverlegungsprogramms war, eine Pufferzone zum Meer einzurichten", sagt Kensinger der DW. "Dort, wo einst Häuser standen, wurden Feuchtgebiete angelegt. Und nun gibt es Wildblumen und Gras zwischen leeren Häuserblocks und Straßen."
Die verlassenen Häuser befinden sich nicht weit weg von Manhattan und sind nun von Marschland und Straßen umgeben. Sie werden bei Regen und Sturm geflutet.
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Kensinger sagt, er glaube nicht, dass die Menschen gezwungen werden, wegzuziehen. Trotzdem müssten sich immer mehr Hafenviertel im Bundesstaat New York mit der Idee einer Rückverlegung anfreunden.
"Sonst werden sie gezwungen sein, einen Rückzug anzutreten, der weniger geplant ist, sondern vielmehr die Reaktion auf eine Katastrophe."
In dem kleinen Museum auf der deutschen Insel Pellworm zeigen die Überbleibsel vergangenen Lebens eines ganz deutlich - das Meer ist das Einzige, was nie aufhört, sich zu bewegen.