Frankreich vor Atomaussstieg?
1. Juli 2015Frankreichs Atombranche war ein halbes Jahrhundert lang so etwas wie der Stolz der Nation: Bis heute decken die 58 Atommeiler rund drei Viertel des Strombedarfs des Landes.
Der Atomkonzern AREVA war einige Jahre eines der größten Unternehmen der weltweiten Atombranche. Der Abbau von Uran, die Herstellung von Brennstäben und der Bau von Reaktoren brachten dem Konzern viel Geld ein.
Atom-Zukunft ungewiss
Doch im vergangenen Jahr verzeichnete AREVA einen Verlust von fünf Milliarden Euro. Seit sieben Jahren hat der Konzern kein einziges Atomkraftwerk mehr verkauft. Vor allem seit der Atomkatastrophe Fukushima scheinen die Kunden endgültig wegzubleiben. Hinzu kommt: Der Atomreaktor der dritten Generation, der sogenannte EPR (European Pressurized Water Reactor) galt als sichere Zukunftstechnologie und als Flaggschiff der französischen Atombranche. Nun gibt es bei den Druckwasserreaktoren zahlreiche Probleme.
Zukunftsreaktor wird zum Desaster
Für Yannick Rousselet, Atomenergie-Experte bei Greenpeace, wären weitere Verzögerungen nur noch der Gnadenstroß. Denn bisher wurde weltweit kein einziger EPR fertiggestellt und neben zwei europäischen Reaktoren, gibt es lediglich zwei Projekte in China. "Noch vor wenigen Jahren hat uns AREVA versprochen, sie würden in der Welt zwei bis drei EPR-Reaktoren pro Jahr fertigstellen. Die Realität heute ist: der EPR ist als industrielles Projekt tot", so Rousselet.
Stromkonzern EDF soll AREVA retten
AREVA gehört zu 86,5 Prozent dem Staat. EDF, der weltweit zweitgrößte Stromversorger und einer der größten Nuklearstromproduzenten, ist zu 84,5 Prozent in Staatsbesitz.
Auf einer Krisensitzung bei Präsident Francois Hollande Anfang Juni wurde beschlossen, dass EDF in das Reaktorgeschäft von AREVA einsteigen soll. "Ohne diese Maßnahme würde der Atomkonzern AREVA dieses Jahr nicht überleben", kommentiert Mycle Schneider den Rettungsschritt gegenüber der DW. Schneider ist Herausgeber des World Nuclear Industry Statusreport. Die Details eines neuen, gemeinsamen Unternehmens werden noch geklärt. Klar ist aber: AREVA wird aufgespalten.
Mit der Hilfe für AREVA ist nach Angaben von Schneider das Problem für Frankreichs Atomwirtschaft jedoch nicht gelöst. EDF sei zwar wesentlich größer als ARVEVA und habe einen Jahresumsatz von 70 Milliarden Euro, "zugleich aber auch 34 Milliarden Euro schulden". Schneider sieht den Schuldenberg als ein zentrales Problem. Nach Angaben des Pariser Rechnungshofs kommen zudem für den Rückbau und die Entsorgung von Atommüll noch rund 50 Milliarden Euro an Kosten hinzu.
Von Atomkraft zu erneuerbaren Energien?
Neue Töne aus Politik und Energiewirtschaft sorgen für große Aufmerksamkeit. Marc Bussieras, Chef des EDF Strategie-Departments für ökonomische Studien, zeigt sich offen für eine Energiegewinnung ohne Atom. EDF verfolge vor allem eine kostengünstige Strategie sagt er gegenüber der DW. "Heute ist es in Frankreich aus ökonomischen Gründen interessant, erneuerbare Energien zu installieren."
Mit einem Gesetz zur Energiewende will die französische Regierung jetzt zudem den Umbau vorantreiben und hofft zugleich auf einen positiven Job-Nebeneffekt. Das Gesetz, das nach der Sommerpause in der Nationalversammlung verabschiedet werden soll, sieht vor, dass bis 2025 der Anteil von Atomkraft am Strommix von heute 75 Prozent auf 50 sinkt. Der fehlende Stromanteil soll vor allem durch Wind- und Solarkraft gedeckt werden.
Laut einer Studie im Auftrag der staatlichen Umweltagentur (ADEME) wäre bis 2050 sogar der komplette Ausstieg aus der Atomkraft und der 100-prozentige Umstieg auf erneuerbare Energien für Frankreich möglich und wirtschaftlich.
Sven Rösner vom Deutsch-französischen Büro für erneuerbare Energien in Paris beobachtet einen kulturellen Wandel in der Bevölkerung, Politik und Industrie. "Vor zwei Jahren sagte ein großes politisches Lager, dass Atomenergie das einzig Wahre sei und zudem sauber, günstig und zuverlässig. Und dieses Jahr sagen die gleichen Personen, dass man alle Lösungen zulassen sollte."
Mycle Schneider, Herausgeber des World Nuclear Industry Status Report, sieht den Mentalitätswechsel bei der Atomwirtschaft nicht. So sei zum Beispiel die Erkenntnis, dass der Neubau von Atomkraftwerken keine Zukunft mehr habe "in den Köpfen der Konzernleitung von AREVA nicht angekommen".
Schneider sieht die Chancen für die Atomwirtschaft vor allem in einem ganz neuen Bereich. "Die Zukunft liegt in einem unglaublichen Markt von Abriss und Atommüllbewältigung. Der Neubau wird die Ausnahme bleiben."