Steinmeier bekennt sich zu deutscher Schuld
1. September 2019"Es gibt keinen Platz in Europa, an dem es mir schwerer fällt, meine Stimme zu erheben" und "in meiner Muttersprache" zu sprechen, begann Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seine Rede in Warschau bei der zentralen Gedenkfeier zum Beginn des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren. Er erinnerte an die historischen Verbrechen Deutschlands. "Ich stehe hier in Demut und in Dankbarkeit", sagte Steinmeier auf dem Pilsudski-Platz im Zentrum der polnischen Hauptstadt. "Ich verneige mich in Trauer vor dem Leid der Opfer. Ich bitte um Vergebung für Deutschlands historische Schuld. Ich bekenne mich zu unserer bleibenden Verantwortung." Auch auf Polnisch versprach Steinmeier: "Wir werden niemals vergessen."
Deutschland müsse seiner Verantwortung mit einem stärkeren europäischen Engagement gerecht werden, weil es "zu neuer Stärke in Europa wachsen durfte". Vor dem Hintergrund der Geschichte hätten Deutsche allen Grund, die glücklichsten Europäer zu sein, dürften sich aber nicht als die "besseren Europäer" empfinden.
Auf die polnischen Forderungen nach Reparationen ging der deutsche Präsident nicht ein. Erst am Morgen hatte Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki bei einer weiteren Gedenkveranstaltung in Danzig die Forderung nach Wiedergutmachung erneuert. In Warschau war neben Steinmeier auch Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Gast. Es gilt als besonderes Zeichen gegenüber Polen, dass Bundespräsident und Bundeskanzlerin gemeinsam bei einer internationalen Gedenkveranstaltung zugegen sind.
Niemals vergessen
Der polnische Präsident Andrzej Duda rief in seiner Rede dazu auf, die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg wachzuhalten. Solch ein Krieg dürfe sich niemals wiederholen, sagte Duda. Er appellierte an die Staaten der Nato und der EU, Aggressionen in den internationalen Beziehungen entschieden entgegenzutreten. In den 1930er Jahren sei das versäumt worden. Dem nationalsozialistischen Deutschland hätte Einhalt geboten werden müssen, sagte er unter anderem mit Verweis darauf, das sich vor dem Überfall auf Polen das nationalsozialistische Deutschland bereits Österreich einverleibt hatte, ohne dass Konsequenzen gezogen worden seien.
"In letzter Zeit haben wir die Rückkehr imperialistischer Tendenzen in Europa beobachten können", so der polnische Präsident. Dazu zählte er "gewaltsame Grenzverschiebungen", Angriffe auf andere Staaten und das Besetzen von Land. Obwohl er Russland namentlich nicht nannte, bezog er sich auf militärische Aktionen in Georgien 2008 und der Ukraine 2014. Es sei kein Rezept für den Frieden, ein Auge zuzudrücken und alles seinen gewohnten Gang gehen zu lassen, so Duda.
Erinnerung an NATO-Verpflichtungen
Auch US-Vizepräsident Mike Pence hielt eine Rede. Er vertrat Präsident Donald Trump, der seine Teilnahme wegen des Hurrikans "Dorian" kurzfristig abgesagt hatte. Pence würdigte den Widerstandsgeist der Polen, den weder die Nazi-Herrschaft noch das darauffolgende kommunistische Regime hätten brechen können. Indirekt forderte der US-Vizepräsident Verbündete dazu auf, ihren Verpflichtungen in der NATO nachzukommen. "Amerika und Polen werden unsere Allierten auch weiterhin aufrufen, die Versprechen zu erfüllen, die wir uns gegenseitig gegeben haben." Die USA werfen besonders Deutschland immer wieder vor, zu wenig Geld für Verteidigung auszugeben.
Zuvor wandte sich Steinmeier in seiner Rede direkt an den US-Vizepräsidenten. Der Bundespräsident betonte die Bedeutung der transatlantischen Beziehungen. Erst "die Macht von Amerikas Ideen und Werten, seine Weitsicht, seine Großzügigkeit" hätten Europa nach 1945 eine neue Chance gegeben. "Dieses Amerika wollte echte Partnerschaft und Freundschaft in gegenseitigem Respekt", sagte er. Vieles scheine heute nicht mehr selbstverständlich. Steinmeier appellierte, die Partnerschaft zu bewahren.
Zu der Gedenkfeier in Warschau waren etwa 250 geladene Gäste aus 40 Ländern erwartet worden. Ausdrücklich nicht eingeladen war der russische Präsident Wladimir Putin. Im Anschluss an die Reden läuteten die Gäste eine Gedenkglocke.
Gedenken im Morgengrauen in Wieluń
Bereits seit den frühen Morgenstunden wird in Polen an den 80. Jahrestag des deutschen Überfalls erinnert. Vor 80 Jahren um 4.37 Uhr bombardierten Kampfflugzeuge der deutschen Wehrmacht die polnische Kleinstadt Wieluń. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gedachte dort um kurz nach halb fünf mit seinem polnischen Amtskollegen Duda des Kriegsbeginns.
Deutschland nehme die Verantwortung an, "die unsere Geschichte uns aufgibt", sagte Steinmeier. Der Bundespräsident mahnte, dass die Erinnerung kein Ende haben könne. "Es waren Deutsche, die in Polen ein Menschheitsverbrechen verübt haben. Wer behauptet, das sei vergangen und vorbei, wer erklärt, die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten über Europa sei eine Marginalie der deutschen Geschichte, der richtet sich selbst", sagte der Bundespräsident. "Wir werden nicht vergessen. Wir wollen und wir werden uns erinnern."
Der polnische Staatschef Duda dankt Steinmeier dafür, dass er als erster Bundespräsident nach Wieluń gekommen ist. "Ich bin überzeugt, dass diese Zeremonie in die Geschichte der deutsch-polnischen Freundschaft eingehen wird", sagt er. "Dass Sie hier sind, ist eine Form der moralischen Wiedergutmachung."
Die damals nahe der deutschen Grenze gelegene und militärisch völlig bedeutungslose Kleinstadt Wieluń war von der deutschen Luftwaffe am 1. September 1939 als erstes Ziel angegriffen und weitgehend zerstört worden. Von den rund 15.000 Einwohnern der Stadt starben an diesem Tag mindestens 1000 im Bombenhagel, darunter viele Frauen und Kinder. Wenige Minuten später beschoss das deutsche Kadettenschulschiff SMS Schleswig-Holstein ein polnisches Munitionsdepot auf der Halbinsel Westerplatte bei Danzig. Der Überfall auf die beiden Ziele in Polen markiert den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Laut Schätzungen starben in den Kriegsjahren zwischen 1939 und 1945 bis zu 80 Millionen Menschen.
qu/ust/gri (dpa, epd, afp, rtr, ap, phönix)