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Sterbehilfe in Deutschland: Wie weit soll Autonomie gehen?

6. Juli 2023

Seit 2020 ist Freitodbegleitung, eine Form der Sterbehilfe, in Deutschland straffrei. Nun sind Gesetzesinitiativen im Bundestag zur Neuregelung gescheitert.

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Weiße Blume in einem Glas
Die Gesetzesentwürfe zur Sterbehilfe sorgten für DiskussionBild: Gudrun Krebs/Pahnter Media/picture alliance

Was ist würdevolles Sterben? Und wer entscheidet darüber? Diese Fragen gehören zu den heikelsten, die eine Gesellschaft sich stellen kann. In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht 2020 beschlossen: Vor allem entscheidet das jeder Mensch selbst. Autonomie im Sterben als oberste Maxime. Das Urteil bildete eine radikale Kehrtwende. Zuvor war jegliche Form der Sterbehilfe in Deutschland verboten. Menschen, die sie in Anspruch nehmen wollten, mussten beispielsweise in die Schweiz fahren. Seit 2020 agieren Sterbehilfevereine in Deutschland straffrei, sie bieten Freitodbegleitungen an oder vermitteln Ärzte. Nun wollte der Deutsche Bundestag den bisher ungeregelten Zustand beenden und ein Gesetz dazu verabschieden. Doch nach monatelangen Beratungen kam keine Mehrheit dafür zustande.

Sterbehilfe - das kann vieles umfassen: ein Medikament bekommen oder sich selbst verabreichen. Der Unterschied ist entscheidend: Löst ein Mensch selbst eine Infusion aus, die ein tödliches Medikament in die Venen leitet, nimmt er eine Freitodbegleitung, auch assistierten Suizid genannt, in Anspruch. Verabreicht etwa ein Arzt ihm oder ihr das Medikament, ist das aktive Sterbehilfe. Sie ist in Deutschland nach wie vor verboten. In den Niederlanden aber zum Beispiel oder in Luxemburg ist dieser Vorgang erlaubt. Erst kürzlich hat das Parlament in Portugal aktive Sterbehilfe gebilligt.

Bundesverfassungsgericht innen mit Richterbank
Im Jahr 2020 veränderte das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil den Blick auf Sterbehilfe in DeutschlandBild: Uli Deck/dpa/picture alliance

Ob aktiv oder passiv, grundsätzlich ist Sterbehilfe ein Phänomen der Industriestaaten Europas, Nordamerikas und Australien. "Das sind die Länder, wo sich die Gesetzgebung entsprechend ändert, weil Autonomie der beherrschende Wert ist. Andere Länder haben kollektive Entscheidungsfindungen. Familien werden viel stärker einbezogen", da sei der assistierte Suizid deutlich seltener, sagt Lukas Radbruch, einer der führenden Palliativmediziner Deutschlands. Er hat tagtäglich mit Tod und Abschied zu tun, sitzt in einer Ethikkommission und berät dort mit seinen Kollegen über die Wünsche und Leiden seiner Patienten. Den assistierten Suizid würde er nicht anbieten, das könne er mit seinem Verständnis eines Arztes, der das Leben ehren und schützen soll, nicht vereinbaren.

Autonomie bis in den Tod

Es sind Gräben, die verlaufen: zwischen Ärzten, bei Juristen, in der Gesellschaft: Soll die Autonomie des Einzelnen selbst das eigene Sterben umfassen? Das Bundesverfassungsgericht bejaht das. Voraussetzung sei aber, dass der Mensch die Entscheidung "freiverantwortlich" treffe. In einer Zeit, in der der Mensch über den Lebensweg frei und eigenständig entscheiden kann, könne man ihm das im Tod nicht verwehren.

Es ist eine Maxime, der sich Lea Koch schon ihr ganzes Leben verpflichtet hat. Die Anfang 70-Jährige, die eigentlich anders heißt, begleitet ehrenamtlich Menschen in den Tod, sie ist Freitodbegleiterin. Kaum jemand in ihrem Umfeld weiß von ihrem Ehrenamt. Erst seit 2020, seitdem sie straffrei agiert, begleitet sie die Menschen. "Wenn Sie mich vor drei Jahren gefragt hätten, ob ich das machen werde, hätte ich gesagt: never", sagt die resolute Frau, die keine Hinweise auf ihren Wohnort in einem Artikel lesen möchte.

Doch dann fragte eine querschnittsgelähmte Frau an, ob sie sie begleiten würde. Nach einem Motorradunfall war die Frau schwer krank. Es sei für beide eine lebensverändernde Zeit gewesen, sagt Lea Koch. An dessen Ende der Tod der Frau stand mit den letzten Worten, so Lea Koch: "Danke, danke, danke."

Bis heute sei sie ergriffen von dem Vertrauen, das ihr Menschen entgegenbrächten. Und bei jedem Menschen, den sie begleitet, frage sie sich, ob sie das Richtige tue. Aber immer könne sie es mit sich vereinbaren und sagen: "Da stehe ich richtig dahinter." Sie sagt nicht, wie viele Menschen sie in den Tod begleitet hat, aber auf ihrer Terrasse brennt eine ewige Kerze, die an die Menschen erinnert. "Ich habe die Freitodbegleitungen bisher immer als sehr friedlich erlebt", sagt Lea Koch, "weil es sehr reflektierte Entscheidungen sind."

Sterbehilfevereine in Deutschland

Sterbehilfevereine und Menschen, die Freitodbegleitungen durchführen, waren lange Zeit verrufen in der Gesellschaft. Sie würden vom Tod profitieren, Geld machen mit dem Leid der Mitglieder. Das hat sich seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts etwas geändert, auch wenn gerade die einflussreichen Kirchen in Deutschland die Vereine nach wie vor kritisch sehen. Inzwischen gibt es mehrere Sterbehilfevereine in Deutschland. Einige legen transparent offen, wie viele Menschen sie in den Tod begleiten. Beim "Verein Sterbehilfe" waren es im vergangenen Jahr 139 Suizidbegleitungen. Bei der "Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben" (DGHS) waren es im vergangenen Jahr 229 Freitodbegleitungen. Die DGHS ist allerdings strenggenommen kein Sterbehilfeverein, sondern eine Patientenschutzorganisation, die primär beispielsweise bei Patientenverfügungen berät, aber auch Freitodbegleitungen vermittelt für ihre Mitglieder. Ganz überwiegend nehmen Menschen mit schweren körperlichen Erkrankungen Freitodbegleitungen in Anspruch.

Zwei Hände umfassen zwei andere Hände
In Deutschland ist die Nachfrage nach assistiertem Suizid in den vergangenen Jahren stark gestiegenBild: Sami Belloumi/dpa/picture alliance

Die DGHS sagt dabei von sich, sie gehe sehr sorgfältig vor, mehrere Gespräche mit Juristen und Ärzten seien Teil des Prozederes, um absolut sicher festzustellen, dass der Mensch aus freiem Willen gehen möchte. Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts bekämen sie viel positives Echo ihrer Mitglieder und von deren Angehörigen: "Viele sagen, es ist für uns, für die Familie, eine große Erleichterung, dass das so zu Ende gehen konnte, wie derjenige das wollte, ohne dass man das Gefühl hat, man ist mit einem Fuß in der Illegalität oder muss in die Schweiz fahren. Da hören wir schon eine große Dankbarkeit heraus", sagt Wega Wetzel von der DGHS.

Beratung und Durchführung trennen

Doch für einige Palliativmediziner und Ethiker ist es kein gutes Zeichen, das diejenigen, die über das Ende beraten, auch am Ende die sind, die die Freitodbegleitung durchführen bzw. vermitteln. "Bei Beratungen bei Sterbehilfeorganisationen ist das Problem, man wird eher beraten, wie man das macht, nicht ob", sagt Radbruch.

Am Donnerstag (6.7.) kam im Deutschen Bundestag keine Mehrheit für eine Neuregelung der Freitodbegleitung zustande. Zwei Gesetzentwürfe lagen vor. Unter anderem war vorgesehen, dass die Beratungen ausgelagert stattfinden sollen, nicht bei den Sterbehilfevereinen selbst. Während der eine Gesetzentwurf grundsätzlich eine liberale Ausrichtung hatte, wollte der andere die Suizidhilfe wieder über das Strafrecht regeln und somit stärker und strenger regulieren.

Die Parlamentarierinnen Renate Künast (Grüne) und Katrin Helling-Plahr (FDP) stellen ihren Gesetzentwurf zur Suizidhilfe in Berlin vor
Die Parlamentarierinnen Renate Künast (l., Grüne) und Katrin Helling-Plahr (FDP) stellen ihren Gesetzentwurf zur Suizidhilfe vor Bild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Wie sehen wir zukünftig den Tod?

Für den Philosophen und Medizinethiker Jean-Pierre Wils stellen sich bei allen praktischen Fragen auch ganz fundamental ethische: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts legt nämlich keine Kriterien für den Sterbewunsch mehr fest. Theoretisch können auch Gesunde eine Freitodbegleitung in Anspruch nehmen, auch Alter spielt keine Rolle. Wenn ein Mensch, so nennt es das Gericht, "lebenssatt" ist, reicht das aus. Tatsächlich gibt der Verein Sterbehilfe an, dass im Jahr 2022 drei Menschen ohne Erkrankung eine Freitodbegleitung in Anspruch genommen haben.

Eine bedenkliche Entwicklung, findet Wils: "Das Urteil hat die Debatte in eine europäische Avantgarde der Diskussion um Sterbehilfe katapultiert." Denn so weit wie Deutschland gehe dabei kein anderes Land bei der Freitodbegleitung. "Was ich befürchte, was zunehmen wird, ist die Option des Suizids als rationale Option - also wenn ich mein Leben als autonome Person führen will, wenn ich selbstbestimmt lebe, da gehört ultimativ der Suizid zu einer rationalen Option dazu."

Auszug aus dem Grundgesetz Paragraf 216
Die aktive Sterbehilfe, Tötung auf Verlangen, ist und bleibt in Deutschland verbotenBild: G. Vockel/picture alliance

Für Freitodbegleiterin Lea Koch ist das eine Vorstellung, die sie in der Praxis nicht bestätigen kann. "Das Leben ist kostbar. Die Gespräche, die ich geführt habe, das war alles so individuell. Nachahmungseffekte sehe ich nicht." Aber: Das Kriterium Lebenssattheit sei für sie eine legitime Begründung. Sie könne verstehen, wenn jemand nach einem langen Leben gehen möchte. Allerdings spiele da bei ihr das Alter schon eine Rolle.

Und auch wenn man bei der DGHS nachfragt, ist die Autonomie des Menschen das zentrale Kriterium: "Wenn ein Leben lang das Selbstbestimmungsrecht ein sehr hohes Gut ist, müsste das am Ende des Lebens auch der Fall sein", sagt Wega Wetzel.

Für manche, wie den Philosophen Jean-Pierre Wils, lässt das ein Unbehagen zurück. Er fürchtet, dass der Suizid und die Suizidbeihilfe normalisiert werden: "Da verschwindet die ganze Tragik und Dramatik von Suizid. Da gibt es einen gewissen Normalisierungseffekt."

Es sind fundamentale Fragen, die in Zukunft nur drängender werden. Schon jetzt zeigen Zahlen aus den Niederlanden, dass immer mehr Menschen Sterbehilfe in Anspruch nehmen wollen. 

Dieser Artikel wurde am 2.7.2023 veröffentlicht und am 6.7.2023 aktualisiert.

 

Die Deutsche Welle berichtet zurückhaltend über das Thema Suizid, da es Hinweise darauf gibt, dass manche Formen der Berichterstattung zu Nachahmungsreaktionen führen können. Sollten Sie selbst Selbstmordgedanken hegen oder in einer emotionalen Notlage stecken, zögern Sie nicht, Hilfe zu suchen. Wo es Hilfe in Ihrem Land gibt, finden Sie unter der Website befrienders.org. In Deutschland finden Sie Hilfe bei der Telefonseelsorge unter den kostenfreien Nummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.

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